MÜNCHNER FREIHEIT

Das Poller-Paradoxon und was es uns lehrt

von Redaktion

Klar, dass an diesem Bild alle Blicke hängen blieben: Ein Auto, dessen Heck von einem Absperrpoller in die Höhe gehoben wurde und das nun, seiner Fahrfähigkeit beraubt, so hilflos wirkt wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Wenig überraschend, dass die aus dem Verkehr gezogene – oder besser: gehobene Limousine auf der Datenautobahn einen Blitzstart hinlegte. Das Bild des Autos wurde geteilt – nicht nur einmal, wie weiland des Mantel des Heiligen Martin, sondern zigtausendfach. Freilich war diese Art des Teilens nicht von Barmherzigkeit getrieben wie Martins Mantelschnitt. Eher vom Gegenteil: Kübel von Hohn und Spott wurden virtuell über dem Fahrer des Autos ausgegossen. Dabei hatte der nichts falsch gemacht. Er war Opfer eines technischen Defekts. Eines Defekts, wohlgemerkt, der jeden hätte treffen können, der an diesem Tag auf der Theresienwiese parken wollte.

Der Fall zeigt: Die früher einmal gültige gesellschaftliche Übereinkunft, wonach man sich über Opfer nicht lustig macht (zumindest nicht in der Öffentlichkeit), hat den Sprung ins digitale Zeitalter nicht geschafft. Eine Netz-Community, in der der Begriff Opfer zum Schimpfwort verkommen ist, steht allzeit bereit, diese besonders perfide Form des Mobbings lustvoll zu zelebrieren. Auch ein stadtbekannter Comedian konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich ohne Kenntnis der Hintergründe auf Kosten des vermeintlichen Vollpfostens zu profilieren. Ob dem Gaudiburschen inzwischen aufgefallen ist, dass er sich letztlich nur selbst ein Armutszeugnis ausgestellt hat?

Egal: Die Geschichte des mutmaßlichen technischen Defekts, dessen Ursache noch immer nicht geklärt ist, hat noch eine andere Dimension, und die reicht weit über den Einzelfall hinaus. Was ist mit den Heerscharen von Fahrerinnen und Fahrern, die sich in den Augen der Öffentlichkeit zum Gespött gemacht haben, indem sie standhaft behaupten, die Delle am linken hinteren Kotflügel rühre daher, dass ihnen beim Einparken etwas in den Weg gesprungen sei? Womöglich müssen wir ihnen allen Abbitte leisten. Wenn Sicherheitspoller an der Theresienwiese ein unerklärbares Eigenleben entwickeln können – warum nicht auch Baumschutzbügel, Ruhebänke, Radlständer, Mülleimer oder geparkte Autos? Noch nicht einmal die Behauptung, dieses halbhohe Mäuerchen sei gestern noch viel kürzer gewesen, lässt sich im Licht des Münchner Poller-Paradoxons (MPP), wie man es wohl künftig nennen wird, in Bausch und Bogen zurückweisen.

Noch ist das MPP kein wissenschaftlich anerkanntes Prinzip. Eines lehrt es uns aber schon heute: Wer spotten will, tut gut daran zu prüfen, ob er auf den Richtigen zielt. Denn es gibt eine anatomische Eigenheit, die der Mensch aus der alten, gegenständlichen Welt in die neue, virtuelle mitgenommen hat. Meine Großmutter hat mir diese Eigenheit einst so beschrieben: Wenn du mit dem Finger auf andere zeigst, weisen drei Finger auf dich selbst.