Das Timing ist beeindruckend: Ziemlich genau 30 Jahre nach der Münchner Biergartenrevolution wird einigen Wirtschaften im Univiertel mitgeteilt, sie müssen ihre Schanigärten in Zukunft schon um 22 Uhr schließen. So fing das damals auch an. Und der Grund ist auch der gleiche wie seinerzeit: Nachbarn fühlen sich von den Gästen um ihren Schlaf gebracht. Einerseits verständlich: Schlaf ist gesünder als Lärm. Andererseits aber: ein Univiertel, in dem um 22 Uhr die Gehsteige hochgeklappt werden, ist halt auch kein Univiertel. Wer in die Amalienstraße zieht und dort auf gute Luft und Stille hofft, der hat das Prinzip Großstadt nicht verstanden – oder hat einschlägige Erfahrungen am Land gemacht, wo die nächtlichen Kirchenglocken nur unter größter Kraftanstrengung von schnarchenden Bäuerinnen übertönt werden.
Ganz im Ernst stellt sich eine Frage: Haben wir das Zusammenleben verlernt? Früher hieß doch immer: „Leben und leben lassen“ oder „die legendäre Münchner Gemütlichkeit“ – gilt das überhaupt noch in unserer aufgeregten Gegenwart? Im München unserer Tage kann man per App Falschparker melden. Und Fahrradfahrer rüsten sich mit Helmkameras, um gegebenenfalls andere Verkehrsteilnehmer mit Videobeweis anzuzeigen. München macht sich selbst fertig – und wundert sich dann über seinen schlechten Ruf.
Passend dazu eine Begebenheit, die sich vergangene Woche in einer Sendlinger Seitenstraße zutrug. Eine Ampel zeigte Rot, ein äußerst sympathischer Münchner Kolumnist hielt mit seinem Fahrrad. Allerdings machte er einen Fehler: Er blieb einen halben Meter jenseits der Haltelinie stehen, jedoch – dies zur Ehrenrettung – noch deutlich genug vor der roten Ampel. Ein älterer Münchner schwäbischen Idioms sah darin trotzdem einen Affront. Er belehrte den äußerst sympathischen Kolumnisten. Natürlich hatte der Münchner Schwabe in der Sache Recht. Allerdings ist die Gefahr, die von einem zu weit vorne stehenden Fahrradfahrer ausgeht, doch recht überschaubar. Quarktaschen in der Auslage einer Bäckerei sind ähnlich bedrohlich. Radl-Rambo jedenfalls geht anders.
Ich würde gerne in einer Stadt leben, in der man sich solche Vergehen verzeiht, ja: sie nicht einmal thematisiert. In der man auch nach 23 Uhr noch draußen sitzen darf. In der andererseits aber auch die Gäste vor der Tür Rücksicht darauf nehmen, dass nebenan Menschen schlafen. Eine Weltstadt mit Herz, das wär’s!