Ein Whatsapp-Verlauf zwischen Ayla und ihrer Mutter.
Verzweifelte Mutter: Nesrin O. in der Schillerstraße am Hauptbahnhof. © Jens Hartmann
Der Schnitt ist fingerlang und geht über die gesamte linke Wange. Ayla (14, Name geändert) hat sich geritzt. Mitten im Gesicht. Das Erkennungszeichen ihrer Gang, denn Ayla ist in den Fängen einer Mädchen-Bande.
Die Wunde an der Wange ist nur eine von Aylas vielen Narben. „Die Mädchen ritzen sich auch am Bauch und am Hals“, sagt ihre Mutter Nesrin O. (37, Name geändert). Seit März gehöre Ayla zur berüchtigten Gang vom Hauptbahnhof, die dort stiehlt, raubt und schlägt. Die Polizei ermittelt wegen mehrerer Raubzüge und brutaler Gewalt im Bahnhofsviertel in mindestens zehn Fällen. Am 19. Mai nahmen die Beamten drei Gang-Mädchen (14, 14, 16) fest. Sie sollen vorm Mathäser-Kino zwei 14-Jährige mit einem Messer bedroht und verprügelt haben. Die drei sitzen jetzt in Untersuchungshaft – wegen Wiederholungs- und Fluchtgefahr (wir berichteten).
Im Januar habe alles angefangen, sagt die Sekretärin. „Meine Mutter hatte einen Schlaganfall. Das hat Ayla nicht verkraftet. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Gefühlen, sie hat ihre Oma sehr geliebt.“ In ihrer Schule in Fürstenried habe Ayla angefangen zu kiffen, dann Ecstasy genommen. „Sie ist süchtig geworden, doch ihr Taschengeld reichte nicht. Sie hatte auch Angst vor Stress mit mir. Da ist sie von zu Hause abgehauen.“
Ayla sei erst in eine Schutzstelle gekommen. „Dort haben sie sie rausgeschmissen. Sie ging in ein Sleep-in am Hauptbahnhof, später in Milbertshofen. Dort lernte sie Mädchen aus der Gang kennen. Sie haben meine Tochter da mit reingezogen.“ Der Absturz sei schnell gekommen: „Die Mädchen kennen dort alle Dealer aus der Schillerstraße. Die geben den Mädels Drogen, sie können alles bekommen. So werden sie süchtig gemacht. Doch dann müssen sie dafür bezahlen, also klauen sie, rauben andere aus – oder müssen mit den Männern schlafen.“ Auch ihre Tochter sei jetzt kriminell, sagt Nesrin O.: „Sie klaut im Edeka, prügelt sich.“ Nach Hause komme sie nur selten.
Nesrin O. weiß, wo sie ihre Tochter und die Gang findet. „Die verstecken sich ja nicht. Sie sitzen oft an der Ecke Adolf-Kolping- und Schillerstraße, hinterm Mathäser-Kino oder vorm McDonald’s am Stachus.“ Ihr Stil: „Weite Jogginghosen, viel Make-up und geglättete Haare.“
In dieser Gruppe finde Ayla Halt – gleichzeitig sei ihr Leben aber eine Hölle aus Gewalt, Drogen und Selbstmordgedanken, sagt Nesrin O. Im April sei ihre Tochter mit einer Überdosis Ecstasy ins Krankenhaus gekommen. Aktuell werde Ayla in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Heckscher Klinikums behandelt – auf Anweisung des Jugendamts. Zum Beweis zeigt Nesrin O. eine E-Mail der Behörde. „Sie haben die Vormundschaft. Als Ayla abgehauen ist, hat sie ihnen gesagt, ich würde sie schlagen. Das stimmt nicht, aber sie wollte so in die Schutzstelle kommen.“ Auf Anfrage äußerte sich das Jugendamt nicht zu Aylas Fall – Datenschutz. Auch die Polizei wollte sich deshalb generell nicht äußern.
Tochter und Mutter haben trotzdem unregelmäßig Kontakt. Nesrin O. öffnet WhatsApp, zeigt Chatverläufe. „Manchmal erzählt sie mir, was gerade los ist.“ Einmal schreibt Ayla: „Ich hab ein Iphone 16 geklaut und viele Armani-Sachen.“ Manchmal komme sie zu ihr nach Hause, „dann bade ich sie und nehme sie einfach in den Arm“. Aylas Taten will Nesrin O. nicht herunterspielen. „Ja, sie ist gerade böse, aber sie ist noch ein Kind und wartet auf Rettung.“ Vom Jugendamt halte sie nichts. „Die Kinder werden nicht geschützt.“ Die verzweifelte Mutter will jetzt versuchen, das Sorgerecht für Ayla zurückzukriegen. „Sonst wird sie irgendwann ums Leben kommen.“
THOMAS GAUTIER