München 110

von Redaktion

Reportage aus der neuen Polizei-Einsatzzentrale in der Altstadt

Dienst in der Einsatzzentrale: Daniel P. (42). © nah

Das Polizeipräsidium an der Ettstraße in der Münchner Innenstadt. © Peter Kneffel, dpa

Komplett modernisiert: die speziell geschützte Einsatzzentrale des Präsidiums. © Polizei

Was tun, wenn daheim die Heizung kalt bleibt, das WLAN nicht funktioniert oder wenn sich eine Wasserflasche nicht öffnen lässt? Es gibt Münchner, die dann die 110 wählen – den Notruf der Polizei! Und damit Leitungen für Menschen blockieren, die wirklich dringend Hilfe brauchen. „Es gibt nichts, was es nicht gibt“, erklärt Florian S., der in der Einsatzzentrale (EZ) an der Ettstraße Dienst hat. Ein Bereich, der besonders geschützt ist, weil die Koordinierung der Einsätze nie ins Stocken geraten darf. Entsprechend halten sich auch die dort eingesetzten Polizisten mit der Nennung ihres ganzen Namens zurück. Kein Unbefugter hat das Recht, die EZ, die Herzkammer des Präsidiums, zu betreten.

Der Raum ist abgedunkelt, es geht eher ruhig zu – in konzentrierter Atmosphäre. „Ich kann mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen“, sagt Nancy W., die dort seit mehr als sechs Jahren arbeitet. Wenn die 37-Jährige einen Notruf entgegennimmt, blickt sie auf vier Monitore vor sich mit Eingabe-Masken, Datensystemen, Stadtplänen und der Übersicht, wo welche Streife unterwegs ist. Auf Tischhöhe davor: ein großes Display, auf dem alle aktuellen Notrufe grafisch zu sehen sind. „In einer Schicht komme ich auf 80 bis 100 Anrufe“, sagt Nancy W. Die große Herausforderung dabei: Die Polizisten wissen nie, was sie in der nächsten Sekunde erwartet. Ein echter Notfall? Ein Großeinsatz? Oder nur ein schlechter Scherz? Auch Letzteres kommt vor. Was viele nicht wissen: Wer die Polizei mit unterdrückter Nummer anruft, wird erkannt: Das System zeigt sowohl die Nummer als auch den Standort des Anrufers an.

Die Erfahrungen, die die Polizisten in ihren Schichten sammeln, sind vielfältig. „Mir macht die Arbeit unheimlich Spaß“, sagt Nancy W. – trotz der hohen Belastungen. Hauptgrund: „Wir sind in Kontakt mit den Bürgern.“ Das Schlimme, mit dem man auch konfrontiert wird, gehöre dazu. Ein Fall, den die 37-Jährige wohl nie vergisst, ist der eines Mannes. Er wählte die 110, nachdem es an seiner Wohnungstür geklingelt hatte. Seine schockierenden Worte am Telefon: „Vor mir steht eine Frau, der in den Kopf geschossen wurde.“ Am Ende überlebte die Schwerverletzte durch die schnelle Hilfe von Polizei und Rettungsdienst. Dafür enorm wichtig: Dass die Beamten, die die Notrufe annehmen, ruhig alle Infos einholen und in das System eingeben.

Nächster Schritt, nächster EZ-Raum: Der Kontakt zu den Streifen auf der Straße wird von der Disposition hergestellt. Die Beamten sind die Stimme am Funk und koordinieren die Streifen in der Stadt. „Ich mag beide Aufgaben gern“, sagt Daniel P. mit Blick auf die Anruf-Annahme und den Streifenfunk. Der 42-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren im Team. Eine Situation, die er nicht vergessen wird, war der Notruf eines jungen Vaters. „Er hatte Angst, dass sein Sohn erstickt.“ Während der Mann völlig aufgelöst und schreiend am Hörer war, lief das Kind blau an. Auch wenn am Ende alles gut ausging, sagt Daniel P.: „Das macht schon etwas mit einem.“

Umso größer sein Unverständnis, wenn der Notruf ohne Not gewählt wird. Die Liste des Unfassbaren, warum Menschen die 110 wählen, ist lang: Etwa wenn eine Pizza zu kalt geliefert wird, wenn es Fragen zum Wetter gibt – oder zur Uhrzeit. „Wir haben schon alles erlebt“, sagt Notruf-Beamter Florian S.. Auch, dass ein Hundebesitzer im Englischen Garten den Notruf wählt. Dessen „Problem“: Sein Hund könne nicht sein Geschäft verrichten, weil zwei größere Hunde ihm dabei zuschauten. Nun solle die Polizei eingreifen. Auch Teil der täglichen Herausforderungen: Ab 22 Uhr gilt Nachtruhe. „Ab 22.01 Uhr glühen bei uns die Drähte“, berichtet Daniel P. Die Bürger schimpfen über zu laute Nachbarn. Werden sie dann gefragt, ob sie denn selbst schon um Ruhe gebeten haben, wird das oft verneint.

Das Gegenteil solcher Erfahrungen: echte Extremsituationen. Immer wieder kündigen Menschen ihren Suizid an, manche machen ihn wahr – im schlimmsten Fall noch während sie am Telefon sind. Ausnahmesituationen auch für Gruppenleiter Sebastian S.. „Ich muss schauen, dass es meinen Leuten gut geht“, sagt der 40-Jährige. Bei extremen Lagen geht er deshalb mitunter in die Gespräche rein und hilft seinem Team.

So war es auch Mitte Juni, als ein Notruf aus der Romanstraße einging. Bei dem Familiendrama soll ein 24-Jähriger seine Stiefmutter mit unzähligen Messerstichen getötet haben (wir berichteten). Während der Tat wählte der verzweifelte Vater den Notruf. Die Beamtin am anderen Ende der Leitung bekam alles mit. Das Schlimme in solchen Momenten: „Wir sehen die Bilder nur in unserem Kopf“, so Daniel P. über die Belastung, die mitunter spezieller ist als direkte Eindrücke am Tatort. Allen Beamten stehen Profis bei der Aufarbeitung des Erlebten zur Seite. Hilfe für ihren Einsatz, München jeden Tag sicherer zu machen. NADJA HOFFMANN

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