Es ist eine sonderbare Mode dieser Tage: Keiner will im Jetzt leben – und an das Morgen denken erst recht nicht. Stattdessen herrscht „volle Lotte Nostalgie“, wie man in den Trachtenvereinen des Oberlands so schön sagt. Im Kino bricht „Das Kanu des Manitu“ Rekorde, die Fortsetzung eines 24 Jahre alten Kultfilms. In den Konzertarenen der Welt sorgen „Oasis“ für Begeisterung und Leberschäden – wie zuletzt im Jahr 2009. Auch der TSV 1860 München bastelt sich eine Sturmreihe aus alten Helden. Nach Kevin Volland (33) und Florian Niederlechner (34) soll unbestätigten Gerüchten zufolge jetzt auch noch Rudi Völler (65) zurückkehren und die Löwen eine Liga nach oben schießen.
Ja war denn früher wirklich alles besser? – Reflexartig will man das verneinen. „Twix“ klingt doch schöner als „Raider“. Und diese Frau Sommer aus der Werbung, die wohl selbst in der Sauna eine Packung „Jacobs Krönung“ gezückt und in die Kamera gehalten hätte, vermisst wirklich keiner. Dann aber kommen die Push-Nachrichten aus der großen weiten Welt auf dem Smartphone an. Und angesichts von TrumPutiNetanjahu sehnt man sich eben doch zurück in die Zeit, da die dringendste Frage des Sommers war, ob es in dieser Zahnarztpraxis in der Oberpfalz tatsächlich spukt.
Im Kleinen allerdings gibt es immer wieder Momente, da kann man es kaum fassen, das Glück der Moderne. Am Freitag vor einer Woche zum Beispiel erholte ich mich in der Sonne Südfrankreichs von meinen ersten 17 Jahren als „Merkur“-Kolumnist. Aus Gründen, die findige Leser des Sportteils vielleicht erraten, wollte ich unbedingt wissen, wie das Gastspiel des TSV 1860 München II beim FC Sportfreunde Schwaig verlief. In Zeiten, da „Twix“ noch „Raider“ hieß, hätte ich durch ein Ferngespräch in den darauffolgenden Tagen das Ergebnis mitgeteilt bekommen. Im Jahr 2025 dagegen entdeckte ich zunächst einen Liveticker auf der Homepage des Bayerischen Fußball-Verbands – und dann sogar einen Livestream des FC Sportfreunde Schwaig. Urplötzlich hatte meine Südfrankreich-Reise eine neue Sehenswürdigkeit: tags zuvor der Papstpalast in Avignon und das Amphitheater in Arles, am Freitagabend die NGL-Arena der Sportfreunde Schwaig. Vor 20 Jahren wäre das unvorstellbar gewesen:Ich saß auf einem Campingplatz in Südfrankreich bei einem Glas Weißwein und einem Teller Crevetten und schaute live ein Fußballspiel der Bayernliga. Genau daran aber sollte jetzt jeder merken: So verkehrt ist unsere Zeit auch wieder nicht.