Vivian und Uwe kennen sich bereits. Die Rentnerin kann sich einen Friseurbesuch nicht leisten.
Leuchtende Augen: Friseurin Andrea zeigt Michael sein neues Aussehen. © Yannick Thedens (2)
Zaghaft nimmt Michael (45) den Spiegel in die Hände. Er neigt den Kopf. Seine Augen beginnen zu leuchten. „Bin das ich?“, fragt er ungläubig – und Andrea Debernitz (59) weiß, dass sie alles richtig gemacht hat. Vor acht Jahren kündigte sie ihren Bürojob, um bedürftigen Menschen die Haare zu schneiden.
Andrea ist Mitglied der „Barber Angels“ (Friseur-Engel). Der karitative Verein mit mehr als 800 Mitgliedern in Europa, bietet obdachlosen und bedürftigen Menschen kostenlose Friseurdienste an. „Wir wollen unseren Gästen dadurch ein Gefühl von Würde, Selbstbewusstsein und Wertschätzung zurückzugeben. Sie sollen sich wieder als Teil der Gesellschaft fühlen“, sagt Andrea, die gemeinsam mit ihrem Partner Uwe Pichl (59) einen Salon in Neutraubling bei Regensburg betreibt.
An den Wochenende tauschen sie ihre Friseurkittel gegen die Rocker-Kutten. Die schwarze Lederkluft ist das Markenzeichen der Engel, um Berührungsängste abzubauen, ihren Gästen „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Beide sind seit den Anfängen der „Barber Angels“ im Jahr 2016 mit dabei. „Andrea hat mich damals überredet, mir so eine Haarschneideaktion mal anzuschauen – und ich war direkt überzeugt“, sagt Uwe, der mittlerweile als „Zenturio“ die Einsätze in ganz Bayern verantwortet.
Am Sonntag war Termin im Nußbaumpark. Vor der Kirche St. Matthäus brummten die Rasierer, Scheren klapperten. Der Andrang war riesig. „Die Armut nimmt zu, das merkt man vor allem in München, wo das Leben sehr teuer ist“, sagt Uwe. Mit über 100 Gästen rechnet er heute. Viele sind obdachlos, haben Alkohol- und Drogenprobleme. So wie Michael. Mehrere Schicksalsschläge ließen das Leben des gebürtigen Hannoveraners aus den Fugen geraten. Als dann noch seine Mama starb, „bin ich in ein Loch gefallen“. Der gelernte Schreiner hofft, irgendwann wieder beruflich Fuß fassen zu können. Sein neues Aussehen, meint er, sei auf jeden Fall ein guter Anfang. „Ich mache auf jeden Fall neue Bewerbungsfotos.“
Es sind Geschichten wie diese, die Andrea und Uwe den unschätzbaren Wert ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit zeigen. „Das, was du hier zurückbekommst, kriegst du nicht auf dem Stuhl im Geschäft“, sagt Uwe. Es sind die Freude, das Glück und die Dankbarkeit von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen; die niemand wahrnimmt, obwohl ihre Not oft groß ist. Darunter sind auch immer mehr alte Menschen, die einst in der bürgerlichen Mitte standen und ihr Leben lang gearbeitet haben. So wie Vivian.
Fast 50 Jahre war sie in Lohn und Brot. Zuletzt in einer Cafeteria. Als Corona kam, verlor sie ihren Job. Was bleibt? 400 Euro zum Leben und der Gang zur Tafel. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so enden werde“, sagt Vivian. Doch als Uwe fertig ist, lächelt sie. Ein Hauch von Glück.
Die Barber Angels in München suchen Verstärkung: Interessierte Friseure können sich auf https://b-a-b.club informieren.DANIELA POHL