Zirkus ist kein Zeitgeist-Ding

von Redaktion

Die fantasievolle Artistik von Roncalli kommt bald auch nach München

Tiere, wie hier Elefanten, erscheinen nur virtuell.

Kunstrichtungen, hier Artisten in Bauhaus-Kostümen, spielen eine große Rolle im Programm Art ist Art.

Die farbenprächtige Frida-Kahlo-Nummer. © Roncalli (2)

Lili beherrscht den Standspagat mühelos.

Perfektes Gespann: Circusdirektor Bernhard Paul und seine Tochter Lili Paul-Roncalli verstehen sich bestens. Er ist Clown, sie ist Schlangenfrau. © Oliver Bodmer (2)/Bernhard Schösser

Der Circus Roncalli wird nächstes Jahr 50. Vorher kommt die Legende aber noch nach München, nämlich vom 24. Oktober bis 7. Dezember. Wir haben mit Gründer und Circusdirektor Bernhard Paul (78) auf die Geschichte des Circus zurückgeblickt, den er „wie ein Kind“ hat wachsen sehen – und von seiner Tochter Lilli Paul-Roncalli (28) so einiges über das aktuelle Programm „ARTistART“ erfahren.

Herr Paul, Sie sind seit Jahrzehnten Zirkusdirektor. Haben Sie noch Lust?

Bernhard Paul: Wenn der Gründer nach 50 Jahren noch dabei ist, was soll er da sonst haben? Roncalli ist für mich wie ein Kind, das sich verändert. Man muss Entscheidungen treffen, zum Beispiel die, dass wir mittlerweile auf Tiere verzichten. Oder dass wir unseren Transport auf Schienen mit Bio-Strom machen.

Treten Sie immer noch als Clown auf?

Zeitweise. Täglich zwei Vorstellungen plus Tourneeplanung, Pressearbeit und Regie, das ist mir zu viel. Im Jubiläumsjahr wird es mich aber wieder öfter in die Manege ziehen.

Sind Sie ein Zirkusdirektor alter Schule oder eher ein postmoderner Event-Manager?

Das Wort „Direktor“ ist sowieso nur mit dem Vorwort „Zirkus“ erträglich. Im Übrigen bin ich schon eher klassisch. Jedenfalls nicht modern, denn Modernsein verbinde ich mit Zeitgeist. Und wenn ich eins hasse, ist es Zeitgeist. Daran stirbt der Zirkus, der kann keinem Trend hinterherhecheln. Stellen Sie sich Rap im Zirkus vor! Trotzdem beinhaltet mein Kindheitstraum viele aktuelle Elemente. Wir haben zum Beispiel eine Zirkuskuppel, die sich elektrisch öffnet, und wir haben 1976 als Erste Beatles-Musik verwendet.

Was erwartet die Zuschauer im neuen Programm „Art ist Art“?

Lili Paul-Roncalli: Wir haben für die zweite Hälfte wieder Maler inszeniert, aber andere als vor zwei Jahren. Diesmal gibt es zum Beispiel meine Kontorsions-Nummer auf einer zerfließenden Uhr von Salvador Dalí. Unsere Equilibristen präsentieren ihre Nummer in einer Keith-Haring-Szenerie, die Trapezkünstler schwingen vor Frida Kahlo, eine Salto-Truppe ist vor Toulouse Lautrec inszeniert. Mein Vater führt in dem Programm Regie.

Haben Sie beide auch eine Nummer zusammen? Hatten Sie überhaupt schon je eine gemeinsame Nummer?

Bernhard Paul: Nein. Ich kann kein Kautschuk.

Lili Paul-Roncalli: Und ich habe überhaupt kein lustiges Talent. Ich zeige eine akrobatische Darbietung mit Tanz zusammen mit Chazz del-Logan. Er ist schon mit Lady Gaga als Hauptpartner in ihrer Olympia-Nummer „Mon truc en plumes“ aufgetreten.

Sie haben 2018 Tiere in Ihrer Manege abgeschafft. Warum?

Bernhard Paul: Ich liebe Tiere. Wissen Sie, vor 50 Jahren gab es in den Städten noch ruhige grüne Flecken, auf denen ein Zirkus mit Tieren bleiben konnte. Heute ist das anders. Ich stand eines Tages im Pferdestall, wir gastierten auf dem Kölner Neumarkt. Direkt neben dem Stall war eine Ampel, es ging den ganzen Tag nur vrooom vroom, bremsen und anfahren. Es war eng und laut und rundherum nur Beton. Ich dachte nur ‚Ich will kein Pferd sein‘. Oder man steht mit einem Tiertransporter auf der Autobahn im Stau. Man kann heute keine Tiere mehr mitnehmen. Der Circus Roncalli hat nur eine Zukunft ohne Tiere.

Leben Sie während der Tournee wirklich im Wohnwagen?

Lili Paul-Roncalli: Ja, wenn wir in München im Werksviertel gastieren, schlafen wir in unseren Wohnwägen!

Bernhard Paul: Wir leben seit 50 Jahren im Wohnwagen.

Lili, Sie sind wie Ihre Mutter Artistin geworden. Wann haben Sie gewusst, dass in Ihnen eine Verbiegungskünstlerin steckt?

Lili Paul-Roncalli: Ich habe mich schon von klein auf immer verbogen, zum Beispiel wenn ich auf einem Sessel herumgelümmelt bin. Als ich sechs war, habe ich dann zum ersten Mal eine Kontorsionistin im Zirkus gesehen. Sie hat genau das gezeigt, was ich immer gefühlt habe. Da wusste ich: Das will ich machen! Von meinen Eltern ist aber mein Vater der Flexiblere. Er hatte früher eine Froschnummer, in der er die Beine über die Arme legt.

Bernhard Paul: Lili war wahnsinnig diszipliniert in ihrem Berufswunsch. Einmal, da war sie noch ein Kind, wollte ich sie zum Eisessen einladen, aber sie hat abgelehnt, weil sie lieber proben wollte.

Hätten Sie Ihre Tochter nicht lieber als Anwältin oder Physikerin gesehen?

Das Showgeschäft ist genau richtig. Alles was nicht künstlerisch ist, ist doch Bürokratie. Auch unsere beiden anderen Kinder sind im Showgeschäft. Adrian hat eine Band, ist künstlerischer Leiter des Roncalli’s Apollo Varieté in Düsseldorf. Vivi ist Trapezkünstlerin, nebenbei macht sie das Artisten-Casting und hat das Kostüm-Archiv in ihrer Obhut.

Was verbindet Sie beide mit München?

Lili Paul-Roncalli: Ich bin in München geboren, mein Bruder Adrian auch. Wir fühlen uns hier immer sofort wohl.

Bernhard Paul: Und ich fühle mich als Österreicher in München wohler als in Hamburg. Da oben redet man ja Deutsch. Und: Hier macht der Käfer den Kaffeewagen im Zelt. Das Beste ist für Roncalli-Besucher gerade gut genug.

ISABEL WINKLBAUER

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