Neulich dachte ich wieder wehmütig an, nein, nicht den laut Rilke ach sehr großen Sommer (der terrorisiert mich inzwischen zu oft mit über-30-Grad-Tagen), sondern an das Gold des Oktobers. Er ist, gerade wenn die Sonne strahlt, verschwenderisch damit; und man möchte meinen, sein Goldpreis müsste massiv abstürzen. Im Gegenteil. Wir Goldsucher wissen, dass diese Nuggets in keinen Beutel gesammelt werden können. Der Wind wird sie verwehen, der Frost zu Biomüll verwandeln; wenn sie Glück haben, werden sie von Kindern für Blätterbilder benutzt.
Dieses Gold nehmen wir Herbst für Herbst mit den Augen auf und bewahren es in unserer Sehnsucht nach dem Frühling. In ihm wird es als Grün auferstehen, das Leben bedeutet und viel kostbarer ist als das unlebendige Gold. Jetzt im November sind wir in der Sehnsuchtsphase des Herbstes angekommen. Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, trübes Wetter, feuchte Kälte lassen uns mit Zeitlang einerseits ans Frühjahr vorausdenken, andererseits an den Herbst der üppigen Ernte, der Gelb- und Rot- und Grün-Pink-Töne der Blätterkleider zurückdenken. Die Berghänge trugen stolz diese prächtige Tracht des ausgehenden Jahres. Wir Genießer wissen, Mischwald ist nicht nur klimaresistent, sondern auch traumhaft schön.
Werden und Vergehen heißt es symbolträchtig, wenn wir von der ausgehenden Jahreszeit sprechen. Stimmt gar nicht! Die Pflanzen rüsten sich lediglich für ihren Winterschlaf, egal ob Gänseblümchen oder Buche, ob Löwenzahn oder Kastanie. Diese wunderbare – ja, sie mutet wie ein Wunder an – Vitalität ist mir auf einem Herbstspaziergang am Staffelsee begegnet, und zwar in ihrer Extremform. Die mächtige Weide dort kenne ich seit Jahren. Irgendwann konnten ihre Wurzeln die riesige Krone nicht mehr in der schmalen Böschung zum See halten. Der imposante Baum stürzte ins Wasser, sein Wurzelfuß war aus dem Erdreich gerissen und ragte nackt den Wanderern entgegen.
Das schöne Gewächs durfte an Ort und Stelle liegen bleiben. Die Weide würde als Totholz ungezähltem Leben eine Heimstatt bieten. Das war für mich immer ein Trost. Enten versteckten sich zwischen den Zweigen im Wasser, und wahrscheinlich lauerte dort ein Hecht auf Beute. Nur der bloße, erdige Fuß machte mich weiterhin traurig. Die Wunde war offen, ein Schmerz. Heuer war alles anders. Ich ging zweimal an dem Baum vorbei, ohne ihn wahrzunehmen. Wo war die Weide hingekommen?
Ich kehrte um und suchte. Die Wunde gibt es nicht mehr. Sie ist ein kleiner Wiesenfleck, der halt senkrecht steht und auf seine Gras-Kollegen herunterschaut. Und die Weide selbst ist so gesund wie ihr Wurzelfuß, der anscheinend noch einige Zehen tief ins Ufer gegraben hat. Sie präsentiert kräftige Äste, die aus dem waagerechten Stamm in den Himmel ragen. Die Enten haben ihr lauschiges Plätzchen behalten, und die winzigen Tannenmeisen eines dazugewonnen. Und ein bissl Totholz bietet die flexible Weiden-Nymphe obendrein: Die Schwammerl freut’s.