MÜNCHNER FREIHEIT

Gipfelsturm und Nachbars Lumpi

von Redaktion

Es war 1972, mithin fällt es noch in die Rubrik „Jugendsünde“, was ich hier zu beichten habe: Im Bundestagswahlkampf hatte mir jemand in der Stadt einen Sticker zugesteckt. Der hieß damals noch Aufkleber, zeigte einen Fußabdruck, das CSU-Logo und den Spruch „Einmal neidappt langt“. Mir fiel nichts Dümmeres ein, als ihn daheim mitten auf die Küchenanrichte zu klatschen. Die Begeisterung meiner Mutter hielt sich in Grenzen, zumal sich der Sticker an die Arbeitsfläche klammerte wie der Politiker ans Mandat. Die Strafe folgte, nun ja, auf dem Fuße: Ich musste den Sticker wieder abkratzen. Eine schweißtreibende Arbeit, aus der ich meine Lehre gezogen habe: Vor dem Kleben Hirn einschalten!

Die Geschichte ist mir jetzt wieder eingefallen, als ich vom Gipfelkreuz der Zugspitze las, das wegen seiner Sticker-Last zur Renovierung ins Tal geflogen werden musste. Hier geht es nicht um tausendfache Jugendsünden: Es sind erwachsene Menschen, die auf den höchsten Gipfel Deutschlands eigens einen Aufkleber mitnehmen, um damit wie ein Hund beim Gassigehen das goldene Gipfelkreuz zu markieren. Klar: Je höher der Gipfel, umso stärker der Drang, der Welt kundzutun, dass man es hierher geschafft hat – und sei es mit der Seilbahn. Dafür gibt es eigentlich Gipfelbücher. Wer die Muße hat, darin zu blättern, findet bisweilen geistreiche Bemerkungen, lyrisch-schwärmerische Beschreibungen der Szenerie und fromme Sprüche. Oft sind nur Name und Datum vermerkt, und der eine oder andere Prahlhans glaubt mit seiner Aufstiegszeit glänzen zu müssen. Das kommt in der Grundhaltung dem Sticker schon recht nahe. Dass dieser nun offenbar das Gipfelbuch ablöst, könnte daran liegen, dass sich viele Menschen heutzutage mit Büchern eher schwertun. Sie wollen nicht lesen und nicht schreiben, sondern markieren. Womöglich müssen wir noch dankbar sein, dass sie das mit Stickern tun und nicht wie Nachbars Lumpi ans Kreuz bieseln.

„Das kommt davon, wenn man Flachland-Tiroler zu Tausenden auf den Gipfel karrt“, war mein erster Gedanke, als ich den Bericht las. Dann rief ich mich selbst zur Ordnung: Auch auf Gipfeln, zu denen keine Seilbahn führt, sind mir bereits beklebte Kreuze ins Auge gestochen. Was also tun? Die Menschen schon im Tal nach Stickern durchsuchen? Das funktioniert auch bei den Pyrotechnik-Kontrollen im Fußballstadion nicht. Überwachungskameras aufstellen? Kein schöner Anblick. Wächter vielleicht. Die könnten Kreuz-Frevler sofort zur Rede stellen und ihnen das Seilbahnticket abnehmen, bis sie das Pickerl selbst wieder abgekratzt haben. Praktikabel scheint mir das aber ebenfalls nicht.

Da offenbar kein Kraut gegen die Stickerflut gewachsen ist, will ich versuchen, sie im Sinne des US-Theologen Reinhold Niebuhr gelassen hinzunehmen. Der Gipfel ist dazu ein hilfreicher Ort, zeigt er uns doch, wie leicht man über vieles hinwegsehen kann. Außerdem lehrt die Erfahrung: Modeerscheinungen wie die Aufkleber-Unsitte gehen vorbei, das Gipfelkreuz wird bleiben. Und der Gipfel erst recht. Die Alpen wird es noch geben, wenn eines Tages Vernunft über die Menschen gekommen ist. Ich fürchte nur, die Erosion wird sie bis dahin zum Mittelgebirge schrumpfen lassen.

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