MÜNCHNER FREIHEIT

Was für ein revolutionärer Text!

von Redaktion

Es begab sich aber zu der Zeit, dass wieder einmal Weihnachten vor der Tür stand. Es roch allerorten nach Glühwein und Lebkuchen, und alle Schulkinder rätselten, was sie geschenkt bekommen könnten. Was außer den Geschenken gefeiert werden könnte, war nicht klar. Ich wusste nur, dass es irgendwo im ländlichen Raum gewesen sein muss, weil man in keiner richtigen Stadt Kinder im Stall auf die Welt bringen würde. Mein Vater, der vor Kunstgeschichte sogar Theologie studiert hatte, beschloss, meiner Ignoranz mit einem pädagogischen Geniestreich zu begegnen: Ab sofort werde die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium nicht mehr von ihm, der das ja gar nicht mehr nötig habe, sondern von mir, dem naseweisen, aber ahnungslosen Dreikäsehoch vorgetragen. Zu Füßen des Weihnachtsbaums auf dem Flügel, aber vor der Bescherung, was einen zügigen Vortrag versprach. Als meine sechs Jahre ältere Schwester befand, sie sei ja wohl zuerst an der Reihe, willigte ich sofort ein.

Mein Vater hatte den Text einige Male schon selber vorgetragen. Die Geschichte kam mir sehr rustikal und altbacken vor. Hirten und Könige! Das war wohl aus Opas Zeit, der sogar noch den Kaiser Wilhelm erlebt hatte. Du hast wirklich keine Ahnung, schüttelte mein Vater seinen Kopf. Also studierte ich den Text. Damals soll ein Quirinius Landpfleger in Syrien gewesen sein, jedenfalls nach unserer alten Luther-Bibel.Kein Mensch konnte mir sagen, was ein Landpfleger ist, also dachte ich mir, das sei so etwas wie ein Straßenkehrer in Städten. Aber wo Syrien liegt, wusste auch niemand, also blieb die ganze Geschichte im Dunkeln.

Immerhin musste sogar meine Schwester anerkennen, wie flink ich sie vorlesen konnte, um einen frühzeitigen Beginn der Bescherung zu garantieren. Tja, das ist jetzt 70 Jahre her. Und wie kommt uns der altmodische Text aus Opas Jugendzeit heute vor? Skandalös! Vor allem der Engel, der das Schlusswort hat. „Fürchtet Euch nicht“, sagt der allen Ernstes! Wo man doch heute nur noch den Mund aufmacht oder die Druckmaschine anwirft, um Angst und Schrecken zu verbreiten. „Ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!“ Gibt es heute noch einen Sender oder Influencer, der Freude verkündigt? Und dann auch noch dem Volk? Und sogar allem Volk, also auch anderen Berufsgruppen und Altersschichten, sexuellen Orientierungen und Religionen und Nationalitäten? Dieser Text sprengt doch jeden Rahmen, jede Errungenschaft der letzten Jahrzehnte, jeden identitätspolitischen Fortschritt.

Schließlich das Finale, wieder aus der Luther-Bibel: „Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Kann man noch krasser aus der eigenen Zeit fallen? Man könnte auch nachdenken und sagen: Kein anderer Text ist so brandaktuell und bitter notwendig!

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