Vor der Bundestagswahl

Die langen letzten Meter zur Macht

von Redaktion

VON Tim braune, Jörg Blank UND CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

Berlin – Martin Schulz sitzt in seinem Büro. Die Schatten unter den Augen sind noch ein bisschen tiefer geworden. Kein Wunder nach dem Höllenritt, der in die letzte Woche geht. Griffbereit im Regal liegt ein Bildband des polnischen Fotografen Adam Bujak über Warschau, „die Unbeugsame“. Unbeugsam. Aufrecht. So möchte auch Schulz vor dem Finale am 24. September gesehen werden.

Schulz mag manchen Beobachtern als absehbarer Verlierer gelten – Untergangsstimmung herrscht in der SPD-Zentrale, fünfter Stock, nicht. Täglich trudeln neue Umfragen ein – mal desaströs mit 20 Prozent („Deutschlandtrend“ vom Donnerstag), mal aufbauend mit einem leichten Anstieg auf 23 („Politbarometer“ vom Freitag). Angesichts der Schwankungsbreite – statistische Ungenauigkeiten, die bei den großen Parteien plus/minus drei Punkte ausmachen können – gibt es in der SPD verschiedene Szenarien, künftig doch weiter regieren zu können. Alle Parteien grübeln über den Zahlen.

Wahlabend: Nach allen bisher vorliegenden Daten werden am Abend mehrere Koalitionen möglich sein: Union und SPD (Große Koalition), aber auch ein Bündnis von Union, FDP und Grünen („Jamaika“, wegen der Landesfarben). Einzelne Forscher gehen sogar noch davon aus, dass es für Schwarz-Gelb allein reichen kann.

25./26. September: Die neuen Fraktionen konstituieren sich und wählen ihre Chefs. Die CSU dürfte Alexander Dobrindt zum Vorsitzenden der Landesgruppe wählen. In den folgenden Tagen beginnen erste Beschnupperungen der Parteien („Sondierungen“), wer mit wem koalieren könnte. Vermutlich wird das in jedem Fall mindestens drei Wochen dauern.

Erste Hälfte Oktober: Der Bundestag konstituiert sich, wählt aber noch keine Regierung. Die neuen Abgeordneten sind ab dann im Dienst.

15. Oktober: An diesem Tag wählt Niedersachsen einen neuen Landtag. Kenner erwarten, dass ernsthafte Gespräche im Bund erst danach anlaufen – keine Partei will den Wahlkämpfern in Hannover in die Quere kommen. Weder Union noch SPD haben Grund zur Eile. Beide regieren nämlich weiter, bis eine neue Bundesregierung gefunden ist. Kanzlerin, Minister und Staatssekretäre müssen sogar laut Grundgesetz im Amt bleiben, der Bundespräsident darf sie dazu verpflichten. Das kann Monate dauern. Diese Regierung darf Alltagsgeschäfte erledigen, soll aber „zurückhaltend“ agieren.

Als realistisches Szenario gilt, dass zunächst „Jamaika“ sondiert wird, und die SPD kein Interesse bekundet oder sogar eine Große Koalition ablehnt. Falls Union, FDP und Grüne wegen der grundlegenden Differenzen nicht zusammenkommen, was Beobachter für immer wahrscheinlicher halten, ist die SPD plötzlich wieder in einer komfortableren Situation: Die Union muss sie um ein Bündnis bitten; andernfalls ließe sich keine Regierungsmehrheit finden, Neuwahlen stünden im Raum – vermutlich weiterer Rückenwind für die AfD. „Strategische Geduld“ der SPD (so nennt es die FAZ) lohnt sich für jene Funktionsträger in der SPD, die keinen Neuaufbau in der Opposition wollen.

Spätherbst: Falls sich eine Koalition zusammenfindet, werden wohl Sonderparteitage der CDU und gegebenenfalls ein Mitgliederentscheid der SPD die Inhalte bewerten. Mehrheiten sind offen.

17./18. November: Parteitag der CSU: Die Delegierten sollen sich mit dem Stand der Koalitionsgespräche befassen, vor allem aber eine neue Parteispitze wählen. Nach bisherigem Stand kandidiert Horst Seehofer noch mal. Ein sehr schlechtes CSU-Ergebnis könnte das infrage stellen.

Winter: Ein Termin für die Kanzlerwahl ist völlig offen. Nach der Wahl 2013 wurde es Mitte Dezember.

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