Berlin – Es gibt Tage, da ändern sich Dinge schlagartig. Für Canan Bayram war das der 16. Juni. Beim Parteitag der Grünen knöpfte sich die Berliner Partei-Linke die Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt vor. Eine Rentnerin habe ihr gesagt, beide erinnerten „an Ortsverein-Vorsitzende der CDU“. Auch Boris Palmer bekam für seine Thesen zur Begrenzung der Zuwanderung sein Fett weg. Der möge doch „einfach mal die Fresse halten“, befand Bayram – und wurde bundesweit bekannt.
„Das war gerechter Zorn“, sagt die 51-jährige Anwältin, die seit elf Jahren im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und über die SPD zu den Grünen fand. „Wenn ich etwas ungerecht finde, werde ich emotional. Aber ich muss ja auch nicht jedem gefallen.“ Damit liegt sie schon ganz auf der Linie der grünen Lichtgestalt Hans-Christian Ströbele (78), den sie im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg beerben will. Eine echte Aufgabe: Es geht um nicht weniger, als das bundesweit einzige Direktmandat für die Grünen zu verteidigen. Ströbele holte es vier mal hintereinander.
Als Bayram vor einem Jahr wieder in das Landesparlament einzog, war der Bundestag für sie kein Thema. Sie bezeichnet sich als „Fan von Rot-Rot-Grün in Berlin“, handelte den Koalitionsvertrag mit aus, ist Sprecherin ihrer Fraktion für Rechtspolitik, Integration und Flüchtlinge. Als Ströbele seinen Rückzug ankündigte, „da kam die Anfrage“, sagt sie. „Ich habe mit vielen darüber gesprochen, wie ich was beitragen kann. Und irgendwann gesagt: Das gehe ich an.“
Bayram wird 1966 im türkischen Malataya geboren und kommt mit sechs Jahren nach Deutschland. Der Vater Lehrer, die Mutter in der Fabrik, vier Geschwister. Am Niederrhein wird sie groß, macht eine kaufmännische Lehre, holt das Abitur nach. Nach Politik- und Jura-Studium arbeitet sie in mehreren Ministerien, ehe sie 2003 in Berlin eine Anwaltskanzlei für Familien- und Ausländerrecht eröffnet. Sie lebt und arbeitet in Friedrichshain, nicht im benachbarten Multikulti-Hotspot Kreuzberg, wo der 68er und Ex-RAF-Anwalt Ströbele seine politischen Wurzeln hat.
„Ich wollte unbedingt in den Osten“, sagt Bayram. Seither kämpft sie gegen Mieterverdrängung und den Wandel ihres einst linksalternativen Stadtteils zu einem von Akademikern und Touristen dominierten Kiez. Wahlkampf macht sie in beiden Stadtteilen. Ihre größten Herausforderer sind die Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe (SPD), die ebenfalls türkische Wurzeln hat, und der Linke Pascal Meiser. Auf die Migrantenkarte setzt Bayram nicht: „Das würde nur in Kreuzberg funktionieren.“ Sie will mit Themen punkten. Die Prognosen sprechen dafür, dass sie das einzige Grünen-Direktmandat verteidigen wird. Stefan Kruse