„Am Rande des Abgrunds“

von Redaktion

Konflikt um Unabhängigkeit Kataloniens spitzt sich weiter zu – Spaniens Regierung schließt selbst Einsatz von Gewalt nicht aus

Barcelona/Madrid – Die Stimmung wird von Stunde zu Stunde brisanter. Auch gestern gingen tausende Katalanen auf die Straßen. Die katalanische Zeitung „El Periódico“ titelte, die Region sei „am Rande des Abgrunds“. Auslöser der Krise: Die Regierung der von ausländischen Touristen meistbesuchten Region des Landes will am 1. Oktober ein „verbindliches Referendum“ über die Unabhängigkeit vom EU-Land durchführen – gegen den Willen der spanischen Zentralregierung.

Dass das Referendum tatsächlich stattfindet, ist äußerst unwahrscheinlich. Der Sprecher der Zentralregierung, Iñigo Méndez de Vigo, sagte, die Abstimmung sei durch Festnahmen und Sicherstellungen „logistisch endgültig deaktiviert“ worden. Die große Mehrheit der Beobachter sieht das genauso. Die Regionalregierung hält indes am Referendum fest – und die Wahlurnen vor der Polizei versteckt. Sie wird aber wohl nur hier und da Wahllokale öffnen und bestenfalls so etwas wie eine „symbolische Abstimmung“ durchführen können.

Mit einem Abflauen der Krise und einem Nachgeben der Separatisten rechnet in Spanien aber niemand. Zumal es keinen Dialog zwischen den Seiten gibt. Fermín Bocos, schon als bester Journalist Spaniens ausgezeichnet, zieht bereits Vergleiche mit der Revolution 2014 in der Ukraine. Hunderttausende würden auf die Straßen gehen, sagt er voraus.

Für heiße Diskussionen sorgt „Artículo 155“. Die paar Zeilen, fast eine Kopie von Artikel 37 des deutschen Grundgesetzes, erlauben es der Zentralregierung, in einer Region einzugreifen, deren Machthaber gegen Bestimmungen des Grundgesetzes verstoßen. Notfalls auch mit Gewalt. Ist es also möglich, dass die Panzer auf den Ramblas einfahren? Madrid schließt „keine Option aus“.

Doch wer will überhaupt Spanien verlassen? Die separatistischen Parteien bekamen bei der katalanischen Regionalwahl von 2015 insgesamt knapp 49 Prozent der Stimmen, haben im Parlament in Barcelona aber eine Mehrheit der Sitze. In Umfragen schwankt der Anteil der Befürworter einer Loslösung von Spanien seit Jahren zwischen knapp 40 und gut 50 Prozent. Unter den aktiven Unterstützern der Separatisten sind viele Künstler und Sportler, darunter Startenor José Carreras und Fußball-Trainer Pep Guardiola. Es gibt aber auch einige Vereinigungen von Unabhängigkeitsgegnern. Die größte ist die „Katalanische Zivilgesellschaft“. Die Gegner einer Loslösung von Spanien halten sich aber sehr bedeckt. Man wolle kein Öl ins Feuer gießen, erklären einige.

Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy schließt eine Befragung nur der Katalanen aus und erklärt, gemäß Verfassung müssten alle Spanier über die Trennung einer der 17 Autonomen Gemeinschaften entscheiden. Der Konfrontationskurs von Rajoys konservativer Volkspartei (PP) wird von der viertstärksten Fraktion, den liberalen Ciudadanos, mitgetragen.

Der sozialistische Oppositionsführer Pedro Sánchez ist gegen die Separatisten, wirft aber Rajoy vor, mit mangelnder Dialogbereitschaft dem Konflikt Nahrung gegeben zu haben. Die linke Protestpartei Podemos, die Nummer drei im „Congreso“, tritt für Selbstbestimmung und ein von allen Seiten gebilligtes Referendum in Katalonien ein.

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