München – Es ist schon eine Weile her, dass die Öffentlichkeit einen ehrlichen Einblick in die grüne Seele erhaschen konnte. Mitte Juni war das, als eine Frau namens Canan Bayram beim Parteitag ihren großen Auftritt hatte: Die Kandidatin, die in den Fußstapfen von Christian Ströbele in Berlin-Friedrichshain das einzige grüne Direktmandat verteidigen will, hielt eine Begrüßungsrede, an die sich die Parteifreunde noch länger erinnern werden. Sie berichtete vom Gespräch mit einer älteren Frau, die gefragt habe: Warum brauche es die Partei eigentlich noch? Die Spitzenkandidaten erinnerten sie weniger an Grüne, sondern eher an „Ortsvereinsvorsitzende der CDU“. Und weil sie schon mal in Fahrt war, gab Bayram dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer noch den Rat mit: „Einfach mal die Fresse halten.“
Inzwischen ist Ruhe eingekehrt bei den Grünen. Gespenstische Ruhe. Keiner will Schuld sein, wenn es am Sonntag wieder schief geht. Vor vier Jahren wirkten die 8,4 Prozent wie ein schwerer Schlag, weil die Partei kurz zuvor wegen Fukushima noch ungeahnte Zustimmung erfahren hatte. Als man 2011 jenseits der 20-Prozent-Marke die SPD überholte, hatten einige schon von einer grünen Volkspartei geträumt. Umso härter war 2013 die Landung.
Vier Jahre später scheint die Ökopartei keinen Schritt weiter. Obwohl sich zuletzt der Fokus stark auf den Kampf um Platz drei richtete, liegen die Grünen in allen Umfragen unter dem Ergebnis von 2013. Die letzte Umfrage für Bayern taxiert sie bei sieben Prozent, womit beispielsweise eine Margarete Bause den Sprung in den Bundestag verpassen würde. Der Erfolg bei der Homo-Ehe (im Parlament euphorisch gefeiert), der Dieselskandal und die Fahrverbote, selbst der Fipronilskandal – keine der schönen Vorlagen kann man für sich nutzen.
Dabei ist viel passiert seit 2013. Claudia Roth trat als Parteichefin ab, die Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin und Renate Künast folgten. Auch inhaltlich folgte eine Neuaufstellung: „Wir sind in den Wettbewerb um die sozialdemokratischste Partei eingetreten“, hatte der Münchner Realo Dieter Janecek damals diagnostiziert. Vor allem das Steuerprogramm hatte die Wähler verschreckt.
Heute kann von sozialdemokratischen Positionen keine Rede mehr sein: Eigentlich gibt es keine Partei, die sich Angela Merkel so deutlich als Regierungspartner andient wie die Ökopartei. Parteilinke sehen das kritisch, weil man vor allem ältere Stammwähler vergrätzt. Doch in der heißen Phase des Wahlkampfs beißen sie sich auf die Zunge. Noch. Die beiden Parteiflügel, notorisch zerstritten, hatten sich darauf geeinigt, im Wahlkampf zusammenzuhalten. Aber zu diesem Deal gehörte auch, sich auf keine Koalition festzulegen. Doch seit mit Martin-Schulz-SPD eine Mehrheit völlig unrealistisch scheint, geht der Kurs eindeutig in Richtung Schwarz-Grün. Cem Özdemir wird schon als künftiger Außenminister gehandelt. Konservative Beobachter reiben sich schon die Hände. „Angela Merkel hat bisher alle Koalitionspartner kleinregiert – bei den Grünen scheint das schon zu geschehen, bevor die Koalition überhaupt begonnen hat“, lästerte unlängst der Kolumnist Wolfram Weimer.
Das Schweigen hat allerdings auch mit einer gewissen Ratlosigkeit zu tun. Woran liegt die Flaute? „Vielleicht hätten wir mutiger sein müssen und den deutlich beliebteren Özdemir früher in den Vordergrund rücken müssen“, sagt einer. Doch das Realo-Spitzenduo Özdemir/Göring- Eckardt wurde per Urwahl ausgesucht. „Und das Programm ist eher links“, heißt es unter Realos. Unvergessen bleibt das Video des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der sich über den Beschluss ärgerte, den Verbrennungsmotor bis 2030 abschaffen zu wollen. „Schwachsinnstermin“, schimpfte Kretschmann am Rande des Parteitags im heimlich gefilmten Gespräch mit einem Parteifreund und warnt vor den Folgen für Wahlergebnisse. „Dann seid mit sechs oder acht Prozent zufrieden. Jammert nicht rum und lasst mich zufrieden.“
Derzeit sieht es so aus, als könnte Kretschmanns Frust-Prognose Realität werden. Zumindest Göring-Eckardt übt sich noch im Zweckoptimismus. „Am nächsten Sonntag werden wir so’n richtigen, richtigen Überraschungscoup landen“, rief sie vergangenen Sonntag beim Parteitag. Überraschung? Selbstbewusstsein hört sich anders an.