Jerusalem – Gegen Mittag ruft der Muezzin der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg zum Gebet. Sein Gesang weht herüber bis zur Klagemauer, wo gläubige Juden beten. In Jerusalems Altstadt herrscht ansonsten Stille: Die meisten palästinensischen Läden bleiben am Donnerstag geschlossen – aus Protest gegen die Entscheidung der USA, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen.
„Ich denke, es ist keine gute Sache, das zu tun“, sagt der Palästinenser Osama Scheich über den Alleingang Donald Trumps. Der 19-Jährige ist einer der wenigen, die an diesem Tag arbeiten – in der Wechselstube seiner Familie am Jaffa-Tor zur Altstadt. „In Jerusalem befindet sich die Al-Aksa-Moschee und die gehört zu uns und nicht zu ihm“, sagt er. Trump habe kein Recht, hier etwas zu verteilen, was nicht ihm gehöre.
Nach Trumps Entscheidung ist die Lage im ganzen Land explosiv. Der Chef der radikal-islamischen Hamas, Ismail Hanija, sagte, sie komme einer „Kriegserklärung gegen die Palästinenser“ gleich und rief für den heutigen Freitag zu einem neuen Aufstand (Intifada) auf. Er ziele „ins Gesicht des zionistischen Feindes“, sagte er bei einer TV-Ansprache in Gaza. Die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah rief die islamische Welt dazu auf, die Palästinenser finanziell, politisch, medial und militärisch zu unterstützen.
Schon gestern kam es zu gewaltsamen Unruhen in Ramallah, Bethlehem, Hebron und am Rande des Gazastreifens. Palästinensische Demonstranten warfen mit Steinen, die Polizei antwortete Berichten zufolge mit Tränengas und Schüssen. Nach offiziellen Angaben wurden mindestens 80 Palästinenser verletzt. Am Abend griff die israelische Armee als Reaktion auf einen Beschuss Ziele im palästinensischen Gazastreifen an.
In Kairo, Tunis und Amman (Jordanien) gingen hunderte Menschen auf die Straße. Derweil versucht die internationale Gemeinschaft, Antworten auf den US-Vorstoß zu finden. Der UN-Sicherheitsrat will sich heute zu einer Dringlichkeitssitzung in New York treffen. Die EU will versuchen, eine aktivere Rolle bei der Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern zu spielen. Man werde „noch stärker auf die Konfliktparteien und die regionalen und internationalen Partner zugehen“, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte allerdings, dass Europa allein keine Lösung für die Region finden könne. Dazu seien auch die USA nötig. Zugleich erklärte sie, die Bundesregierung sei mit Trumps Schritt „nicht einverstanden“.
Längst nicht alle sind in Alarm-Stimmung. An der Klagemauer wird am Donnerstagnachmittag gefeiert. Männer singen bei der Bar Mizwa ihrer Söhne, Frauen werfen dazu Süßigkeiten. Touristen fotografieren sich.
„Es ist die richtige Zeit dafür“, sagt Jonathan Charasch, groß, breit, schwarze Kippa auf dem Kopf, über die Entscheidung Trumps. „Für alle Leute anderswo ist das jetzt irgendwie ‚Wow‘, aber es ist nicht neu, für die Juden war Jerusalem seit tausenden von Jahren die Hauptstadt von Israel.“ Der Familienvater arbeitet nahe der Altstadt in einem Falafelladen. Auch die 20-jährige Israelin Lior Baraschi findet Trumps Entscheidung gut. Aber: „Das gibt wieder Krieg, ganz sicher.“
Israel eroberte 1967 im Sechs-Tage-Krieg unter anderem Ost-Jerusalem von Jordanien und annektierte den Stadtteil später. Die internationale Gemeinschaft erkennt das nicht an. Die Palästinenser wollen Ost-Jerusalem als Hauptstadt für einen künftigen unabhängigen Staat Palästina. Israel beansprucht die ganze Stadt für sich.
Der deutsche Benediktinermönch Nikodemus Schnabel lebt seit 14 Jahren in der Heiligen Stadt. „Jerusalem ist einfach eine Stadt, die viereinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat und eine Geschichte, die teilweise erinnert und teilweise verdrängt wird“, sagt der Leiter der Dormitio-Abtei am Rande der Altstadt. „Wenn die Israelis sagen, Jerusalem ist 3000 Jahre alt und die ewige Hauptstadt Israels, muss man sagen: Nein, Jerusalem ist 4500 Jahre alt und eine kanaanäische Stadt.“
Die Palästinenser wiederum würden verdrängen, dass es die jüdischen Tempel gab, weil das nicht in ihr Geschichtsbild passe, sagt Pater Nikodemus. In jeder Religion gebe es zudem Strömungen, die Jerusalem für sich allein haben wollten. „Jerusalem ist wie ein feines Spinngewebe“, sagt er. „Da kann man sich nicht elefantös darin bewegen, das tut den Menschen nicht gut.“
Heute, das ist die Sorge vieler, könnte es nach dem Freitagsgebet zu größeren Konflikten kommen. Die beiden letzten Intifadas forderten tausende von Opfern. dpa