Der Herbst des Jahres 2017 hat fast alle politischen Parteien in Turbulenzen gestürzt: Die CSU lieferte ein wochenlanges Schauspiel der Selbstzerfleischung. Die FDP, dank des glamourösen Christian Lindner ja eigentlich eine Gewinnerin der Bundestagswahl, geriet nach dem Jamaika-Aus mächtig in die Defensive. Und gestern nun gewährten die Sozialdemokraten einen transparenten Einblick in ihre geschundene Parteiseele: hin- und hergerissen zwischen der Last der Verantwortung und der tiefen Abneigung gegen eine neue GroKo.
Es klang fast ein wenig verzweifelt, als Olaf Scholz dabei den Genossen zurief: „Jamaika ist nicht an der FDP gescheitert, sondern daran, dass die Kanzlerin es nicht hinbekommen hat, einen Kompromiss zwischen diesen Parteien zu organisieren.“ Dem Parteivize ging es natürlich nicht um Solidarität mit den Liberalen, sondern um das eigentliche Phänomen dieses Herbstes: Angela Merkel scheint von all den politischen Stürmen nahezu verschont zu bleiben. Aus der innenpolitischen Debatte hat sich die Kanzlerin – sollte sie nicht eigentlich eine Regierung bilden? – seit ihrem nächtlichen Auftritt nach dem Jamaika-Scheitern verabschiedet. Vermutlich beobachtet sie seitdem mit ironischem Lächeln, wie sich CSU und SPD in ihrer Selbstfindungsphase demontieren.
Merkel sollte sich nicht zu früh freuen. Die stundenlange Debatte in der SPD weist eindeutig darauf hin, dass die Genossen keine einfache Neuauflage einer Großen Koalition mehr akzeptieren. Vielleicht kommt eine punktuelle Zusammenarbeit, womöglich nur auf Zeit. Aber ein festes Bündnis, in dem Merkel weiter durchregiert, erscheint mit dem gestrigen Tag noch unwahrscheinlicher. Das Regieren wird damit schwieriger, Merkels Dominanz schwindet. Und irgendwann, eines fernen Tages, könnte dann der Zeitpunkt kommen, an dem auch die CDU mit einer ehrlichen Wahlanalyse beginnt.
Mike Schier
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