Ein Jahr nach dem Terror von Berlin

Beschämt

von Redaktion

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund. Aber manchmal will der Schmerz einfach nicht vergehen. Weil die Wunden immer wieder aufs Neue aufgerissen werden. So ist es im zu Ende gehenden Jahr den verletzten Opfern des Berliner Weihnachtsmarktattentates und ihren Angehörigen ergangen: Erst konnte der Staat sie nicht schützen. Und dann ließ er sie in ihrer Trauer und Verzweiflung allein. Während die Betroffenen monatelang in wachsender Verbitterung auf ein Zeichen der Anteilnahme warteten, musste die Politik, bis in die letzten Tage hinein, im Wochenrhythmus immer neue, immer haarsträubendere Pannen bei der Überwachung des tunesischen Terrorverdächtigen und späteren Zwölffachmörders Anis Amri einräumen.

Das Vergessen der Opfer und die blitzartige Rückkehr zur routinierten Geschäftigkeit des Politbetriebs hatte Methode und folgte einem kaltherzigen Kalkül: Die im Dunkeln sieht man nicht. Das ersparte manche lästige Debatte. Ein Jahr später hat diese Debatte die Kanzlerin aber doch noch eingeholt. Ein Brief, in dem die Angehörigen ihre Wut, den Schmerz und die Enttäuschung hinausschrien und die Regierungschefin bezichtigten, ihrem Amt nicht gerecht geworden zu sein, hat das Berliner Schweigen zerrissen und ihre führenden Repräsentanten tief beschämt. Merkels gestrige Begegnung mit den Opfern und den Hinterbliebenen kam leider ein Jahr zu spät.

Wenn die Spitzen des Staates heute, am Jahrestag der Tragödie, am Anschlagsort zusammenkommen, dann tun sie dies hoffentlich in dem festen Willen, dass sich eine Missachtung der Opfer wie in diesem Fall nie mehr wiederholen darf. Den Hinterbliebenen und Überlebenden aber ist zu wünschen, dass sie endlich ihren Frieden finden, auch wenn die Erinnerung an den 19. Dezember 2016 und die Folgen ihrer Verletzungen sie bis an ihr Lebensende begleiten.

Georg Anastasiadis

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