Brüssel/Warschau – Es wird ungemütlich für Polen in der EU. Schon heute könnte die EU-Kommission ein Sanktionsverfahren starten, das zum Entzug von Stimmrechten in der Gemeinschaft führen kann. Es wäre eine beispiellose Eskalation. Selbst wenn die Brüsseler Behörde den drastischen Schritt noch einmal aufschieben sollte, droht Ungemach aus dem Europaparlament. Auch dort laufen Vorbereitungen für das Verfahren. Die EU-Partner sehen die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung in Polen in Gefahr.
Schon seit zwei Jahren eskaliert der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau, seit die nationalkonservative Regierungspartei PiS die Parlamentswahl gewann und mit dem Umbau der Justiz begann. Konkreter Anlass sind jetzt zwei Gesetze zur Reform des Obersten Gerichts und des Landesjustizrats, bei denen nur noch die Unterschrift von Präsident Andrzej Duda fehlt. Der Streit trägt Züge einer Machtprobe. Aus Brüssel kommen seit Monaten immer dringendere Mahnungen, die sich das Mitgliedsland Polen empört verbittet.
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski sieht sich im Recht. Der Justizapparat sei seit dem Ende des Kommunismus 1989 nicht reformiert worden und die Richter seien größtenteils korrupt, argumentiert die PiS. Die Juristen sähen sich als „elitäre Kaste“, einfache Polen fühlten sich ungerecht behandelt, meint die Partei, die sich als Vertreter der „kleinen Leute“ sieht und vor allem auf dem Land Rückhalt hat.
Rechtsexperten bestreiten nicht den Reformbedarf. Doch Folge der jetzt vom Parlament beschlossenen Reformen wäre Einfluss der PiS auf die Mitgliederwahl des Obersten Gerichts und des Landesjustizrats. Die Partei könnte Druck auf Richter ausüben, warnen Kritiker. Künftig könnte ein befangenes Oberstes Gericht über die Gültigkeit von Wahlen urteilen. Die Venedig-Kommission des Europarats kommt zu dem Schluss, die Kombination früherer Gesetze und der jetzt beschlossenen Maßnahmen führe zu einem „ernsten Risiko für die Unabhängigkeit aller Teile der Justiz in Polen“.
Ähnlich argumentiert auch die EU-Kommission. Der zuständige Vizepräsident Frans Timmermans sagte schon im Sommer, man stehe kurz vor dem Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge. Damals hatte Duda aber gerade sein Veto gegen eine frühere Fassung der beiden Justizreformgesetze eingelegt, und die Kommission wollte die Revision abwarten. Die brachte aber laut Timmermans wenig: „Die Kommission ist der Meinung, dass diese Gesetze eine systematische Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit darstellen“, sagte er im November.
Und so lässt die Kommission seit Tagen durchblicken, dass es nun zum Schwur kommt. Kommissar Günther Oettinger sagte: „Es spricht viel dafür, dass Artikel 7 erstmals (…) angewendet wird.“ Der neue polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki geht ebenfalls davon aus, dass es dazu kommt.
Jean-Claude Juncker, Präsident der Kommission, hielt sich aber öffentlich bis zuletzt ein Hintertürchen offen. Denn das Verfahren nach Artikel 7 gilt in der EU als schärfste Sanktion gegen einen Mitgliedsstaat. Juncker will sich nicht vorwerfen lassen, dies leichtfertig auszulösen. Außerdem steht er vor dem Dilemma, dass die große Geste die eigene Machtlosigkeit belegen könnte. Natalie Skrzypczak