Doppelspitze bei den Grünen

Revolution oder Scherbenhaufen?

von Redaktion

von Sebastian Dorn

München – Cem Özdemir hat schon einmal erlebt, wie empfindlich seine Partei bei der Machtfrage ist. „Die doppelte Doppelspitze der Grünen macht es nicht leichter, personelles Profil zu gewinnen“, sagte er 2015 – und stürzte sich und die gesamte Grünen-Basis mit diesem Satz in eine wochenlange Sinnkrise. Jetzt, zwei Jahre später, kommt das Thema wieder auf, aber mit deutlich moderateren Tönen.

Es ist nicht die Doppelspitze an sich, die die Grünen vor ihrem Bundesparteitag am 26. Januar infrage stellen. Die Mischung von Frau und Mann soll bleiben – es geht stattdessen um die andere, bislang eiserne Aufteilung: den Proporz zwischen Realo-Flügel und Parteilinken. Auslöser der Debatte sind ausgerechnet die gescheiterten Jamaika-Sondierungen. Sie haben den Grünen gezeigt, dass man mit Zusammenhalt, Kompetenz und Kompromissbereitschaft einiges bewegen kann – und damit auch noch gut bei den Wählern ankommt. Anders als mit linker Fundamental-Opposition.

Mit Robert Habeck (48) aus Schleswig-Holstein und Annalena Baerbock (37) aus Brandenburg melden zwei Realos für die Parteiführung Ansprüche an. Beide werden fachlich geschätzt, spätestens seit ihren vielen Jamaika-Interviews, mit denen sie auch in Bayern eine gewisse Bekanntheit erlangten. „Sie haben großes Ansehen, können Brücken bauen“, sagt der Münchner Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek, selbst ein Realo. „Das Flügeldenken darf nicht zu einem Kartell der Mittelmäßigkeit führen. Die Basis soll eine Auswahl zwischen den Besten haben.“ Wer Führung übernehme, müsse sich anstrengen, die ganze Partei zu repräsentieren. Wie dem Münchner Grünen geht es vielen in der Partei: Es herrscht Aufbruchstimmung. Pragmatismus statt Proporz. „De facto sind wir längst in die Mitte gerückt“, sagt Janecek.

An Erfahrung fehlt es den neuen Hoffnungsträgern jedenfalls nicht. Habeck (48) hat als Umweltminister in Schleswig-Holstein sechs Jahre Regierungserfahrung gesammelt. Er tritt selbstbewusst auf, manchmal stur. Kritisch wird weniger seine Ausrichtung beäugt als sein Wunsch, ein Jahr parallel zur Parteispitze sein Ministeramt in Kiel behalten zu dürfen. Das widerspricht der Grünen-Richtlinie zur Trennung von Amt und Mandat. Allerdings sind die ersten Anträge für eine entsprechende Satzungsänderung schon auf den Weg gebracht.

Bei Baerbock gibt es dieses Problem nicht, sie ist einfache Abgeordnete im Bundestag. Aber eine, die sich seit 2013 beim Klimaschutz und in der Europapolitik parteiübergreifend einen guten Ruf erarbeitet hat. Und imponiert, weil sie als zweifache Mutter Familie und Karriere verbindet.

Verliererin der möglichen Neuordnung wäre die derzeitige Vorsitzende Simone Peter (52) aus dem Saarland. Die Parteilinke will wieder kandidieren, wirklich gefreut hat das aber kaum jemanden. „Ich stehe dafür, dass wir unsere Wurzeln nicht vergessen“, mahnte Peter unlängst im „Tagesspiegel“. Sie verspricht aber auch: „Es wird keinen Scherbenhaufen geben.“

Der Grund für die Rotation: Noch-Parteichef Özdemir kandidiert nicht mehr für die Parteispitze. Stattdessen liebäugelt er auf den Fraktionsvorsitz neben Katrin Göring-Eckardt. Es wäre die Vereinigung des Spitzenduos der Bundestagswahl, bei der die Grünen mit 8,9 Prozent besser abschnitten als prognostiziert.

Die Fraktion führt aber derzeit Anton Hofreiter aus München, einer der Parteilinken. Der nächste Verdrängte? Eher nicht, sagt ein Parteifreund, dafür sei Hofreiter zu beliebt. Man werde Özdemir „anders einbinden“. Strategisch wäre das nicht blöd: Özdemir ist in Umfragen der derzeit beliebteste Grüne – und damit wichtiger Wahlkampfhelfer auch in Bayern, wo bei der Landtagswahl im bürgerlich-ökologischen Lager viele Stimmen zu holen sind. Gerade angesichts der aktuellen Schwäche von CSU und SPD.

In vielen Landesverbänden ist der Proporz längst nicht mehr so wichtig. In Baden-Württemberg regiert der Ober-Realo Winfried Kretschmann. Auch in Bayern geben die Realos die Richtung vor. Die Landesvorsitzende Sigi Hagl sagt, es gebe an der Basis oft kein Verständnis für das starre Flügelsystem. Co-Landeschef Eike Hallitzky sagt dagegen: „Die Grünen fliegen gut mit ihren zwei starken Flügeln.“

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