Berlin – Hunderte weiße Rosen liegen vor der Berliner Gedächtniskirche. Ein schmaler, mattgoldener Riss durchzieht den Platz. Angehörige, Verletzte, Helfer und Politiker stehen an diesem nasskalten Dienstag zusammen auf einer Insel der Stille in der sonst so quirligen City-West und verharren in stummem Gedenken an dem neuen Mahnmal. Die Trauergäste sind zur offiziellen Übergabe des Gedenkzeichens gekommen.
Es ist der erste Jahrestag des islamistischen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt, bei dem zwölf Menschen aus sechs Nationen starben und etwa 100 verletzt wurden. Stille habe auch am Abend des 19. Dezember 2016 in den ersten Minuten nach dem Anschlag geherrscht, hatten Opfer berichtet. Betroffenheit und Trauer spiegeln sich in vielen Gesichtern. Ein Mann mit einer schwarzen Mütze senkt den Kopf und ringt nach Luft. Eine grauhaarige Frau wird von einer jüngeren untergehakt und gestützt.
Vielen Betroffenen ist es schwer gefallen, an den Tatort zurückzukommen. Sie wollen Respekt, Ruhe und Abstand. Die Wunden sind noch längst nicht geschlossen. Daran sollen auch der 17 Meter lange Riss sowie die Namen der zwölf Todesopfer an den Treppenstufen erinnern. Es war der Wunsch der Hinterbliebenen, die Namen zu nennen.
Die komplette politische Spitze Deutschlands ist gekommen. Neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sind auch Kanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) da.
Im schwarzen Mantel steht Merkel sichtlich betroffen am Anschlagsort. Sie umklammert ein Glas mit einer kleinen Kerze, senkt den Kopf und schweigt minutenlang. Nur Müller spricht. „Ein Riss symbolisiert die Wunden, die der Anschlag geschlagen hat. Aber wir wollen den Riss, der durch unsere Gesellschaften geht, überwinden“, mahnt er. „Wir wollen uns nicht durch Terror und Hass spalten lassen. Darum ist das Gedenkzeichen auch ein Symbol für Toleranz und gegen Verbohrtheit. Das schulden wir den Opfern, nicht nur hier in Berlin, sondern überall.“
Merkel äußert sich kurz vor den Kameras – nach Vorwürfen und längerem Schweigen sehr ernst und selbstkritisch. Es solle nicht nur alles Menschenmögliche getan werden, um die Sicherheit zu gewährleisten. Es müsse auch alles getan werden, damit Betroffene möglichst gut wieder ins Leben kommen, verspricht sie. „Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen.“ Hinterbliebene hatten der Kanzlerin einen Brief geschrieben und sich bitter beklagt, dass sie nach dem schwersten islamistischen Anschlag in Deutschland untätig geblieben sei und nicht mal persönlich kondoliert habe.
Fehlendes Mitgefühl zeigte auch die Berliner Senatskanzlei: Während Bürgermeister Müller ein einfühlsames Schreiben an die Opfer-Angehörigen gerichtet hat, wird im Anhang in pingeligster Bürokratenart die Frage der Kostenerstattung im Rahmen der Trauerfeier geregelt: Taxi-Fahrten würden den Angehörigen nicht erstattet, es müssten öffentliche Verkehrsmittel für die Anfahrt genutzt werden, heißt es da. Auch die Kostenerstattung bei Anreise mit dem eigenen Pkw würde maximal in Höhe der Bahn- oder Flugtickets mit 20 Cent pro Kilometer erfolgen.
Am Nachmittag gibt es eine weitere Gedenkfeier im Abgeordnetenhaus. Abends, als es dunkel ist, herrscht dann noch mal Stille unter den 1000 Menschen auf dem Breitscheidplatz. Um 20.02 Uhr beginnt eine Glocke der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu schlagen, genau zu der Zeit also, da der Attentäter Amri vor einem Jahr mitten durch den Weihnachtsmarkt raste. Die Glocke schlägt genau zwölf Minuten lang. Eine Minuten für jedes Todesopfer.