Sie ist nun 70 Jahre her, die bescheidene Weihnachtsfeier in unserer kleinen Dorfschule oben an der Küste. Damit der Ofen im Klassenraum geheizt werden konnte, brachte jeder ein Stück Torf mit, d.h. jeder, der es konnte. Die Flüchtlingskinder unter uns konnten es zumeist nicht, denn bei ihnen zu Hause gab es kaum einen warmen Ofen.
Sie hatten es auch sonst schwer wegen ihres Dialektes und auch wegen ihres katholischen Glaubens, der dort im Lande Martin Luthers doch als fremd empfunden wurde. Mein Schulfreund gehörte zu ihnen, er kam aus Oberschlesien. Seine Eltern hatten ihn noch im November barfuß in die Schule schicken müssen. Jetzt hatte er, wie wir alle, holländische Holzschuhe, Klumpen genannt, die vor Betreten des Klassenzimmers draußen sorgfältig aufgereiht stehen blieben. Lederschuhe gab es nicht zu kaufen.
Unser alter Lehrer, der 100 Kinder vom ersten bis zum siebten Schuljahr in einer Klasse hervorragend unterrichtete, hatte auch die Weihnachtsfeier liebevoll geplant. Das Lied „O du fröhliche …“ war gerade verklungen, da gab er bekannt: „Eine Mehlspende der Militärregierung hat es ermöglicht, für jeden von Euch beim Bäcker einen Laib Weißbrot backen zu lassen! Nachher dürft ihr ihn mit nach Hause nehmen.“ Alles jubelte über dieses Brot. Denn obwohl wir nicht hungern mussten, war doch richtiges Weißbrot unbekannt. Dann durfte der begabteste Schüler das Weihnachtsgedicht von Joseph von Eichendorff vortragen. Und das war mein junger Freund aus Oberschlesien:
Markt und Straßen stehn verlassen, Still erleuchtet jedes Haus, Sinnend geh ich durch die Gassen, Alles sieht so festlich aus!
Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt’s wie wunderbares Singen
– O du gnadenreiche Zeit!
Das Gedicht des schlesischen Dichters, vorgetragen von dem fremden schlesischen Flüchtlingsjungen, berührte uns alle auf eine zärtliche, ja auf eine seltsam stimmungsvolle Weise. Uns geschah das Weihnachtswunder, durch die Kraft in den Wörtern die Gedanken zu erheben aus der Not der Zeit und eine echte Gemeinschaft zu bilden in unserem schlichten Schulraum.
Bei der Feier waren auch die Eltern anwesend und von diesem Tage an waren im Dorf die Mauern gefallen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Es dämmerte dafür in manchen Köpfen, die Vertriebenen könnten gar eine Bereicherung werden, eine Öffnung nach außen für unsere recht enge Heimat.
Heute, Weihnachten 2017, leben wir in einem Wohlstand, den niemand vor 70 Jahren sich hätte vorstellen können.
Da sollte es leicht fallen, mit den heutigen Flüchtlingen zu teilen. Und Weihnachten könnte auch uns die Erkenntnis zuteil werden, die Ankömmlinge mehr als Chance denn als Bürde für unser Land zu begreifen, auch wenn sie kein Gedicht von Eichendorff aufsagen können (wer kann das heute eigentlich überhaupt noch?). Deutsch aber wird jeder lernen, wenn unsere Politiker endlich erlauben, dass die Geflüchteten arbeiten dürfen, unabhängig von dem Behörden-Unwort „Bleibeperspektive“.
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