Madrid/Barcelona – Am Wahlabend fasste sich ein TV-Journalist in einer Talkrunde erschüttert an den Kopf. Als sich die erneute absolute Mehrheit der Separatisten im Parlament von Barcelona immer deutlicher abzeichnete, fragte der Mann in die Runde: „Geht das denn jetzt wieder von vorne los?“ Der überraschende Erfolg der Unabhängigkeitsbefürworter bei der Neuwahl in der Konfliktregion Katalonien hat Spanien in einen Schockzustand versetzt. Die Renommierzeitung „El País“ sprach in einem Leitartikel von einer „ungewissen Zukunft“. An der Madrider Börse gab der Index Ibex-35 zeitweilig um mehr als zwei Prozent nach.
Der größte Verlierer und somit derjenige, der am meisten zittern muss, heißt aber Mariano Rajoy. Der Plan des spanischen Ministerpräsidenten, den Konflikt mit „harter Hand“ und ohne Dialog zu lösen, sei gescheitert, hieß es überall. Der 62-Jährige werde nicht ungeschoren davonkommen. Das Problem ist nicht nur die absolute Mehrheit der Separatisten in Katalonien, mit der aufgrund der Umfragen niemand gerechnet hatte. Rajoys Volkspartei (PP) wurde zudem bei der Wahl nahezu aus Katalonien „vertrieben“. Sie verlor acht ihrer elf Parlamentssitze und ist nun die schwächste Fraktion in Barcelona. Da kam schnell auch Kritik in den eigenen Reihen auf. Der regionale Regierungschef von Galicien, Alberto Núñez Feijóo, ein Partei-Schwergewicht, forderte „Selbstkritik“.
„Rajoys größte Tragödie“, titelte Ruben Amón seine Kolumne in der Zeitung „El País“. Der angesehene Schriftsteller sieht sogar die politische Zukunft des konservativen Politikers „kompromittiert“. Rajoy sei unter anderem die Anwendung von Polizeigewalt zur Verhinderung des illegalen katalanischen Unabhängigkeits-Referendums am 1. Oktober in Katalonien nicht verziehen worden. Dass Carles Puigdemont – von Rajoy Ende Oktober wegen der Abstimmung und wegen eines Unabhängigkeitsbeschlusses als Regionalpräsident abgesetzt – nun als Spitzenkandidat der Separatistenpartei mit den meisten Stimmen ein Comeback wagen könnte, hatte in Spanien niemand für möglich gehalten. Zumal der 54-Jährige sich nach Brüssel abgesetzt hatte, um einer Festnahme wegen Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder zu entgehen.
Wenn Puigdemont es schaffen sollte, sich innerhalb der Fristen bis Mitte April mit den anderen separatistischen Parteien auf eine Regierungsbildung zu einigen, könnten sich die Fronten zwischen Madrid und Barcelona weiter verhärten. Die der PP nahestehende Zeitung „El Mundo“ meinte, Rajoy werde vom „Debakel deutlich geschwächt“ und werde nun vom „Gespenst der Neuwahlen“ auf nationaler Ebene bedroht. Vor Journalisten wies der Ministerpräsident diese Möglichkeit barsch zurück.
Rajoy, politisch schon häufig totgesagt, führte sein Land in den vergangenen Jahren aus einer schlimmen Wirtschaftskrise und überstand außerdem viele Korruptionsaffären. Obwohl seine PP 2016 die absolute Mehrheit im Madrider Parlament verlor, verstand es der Richtersohn aus Santiago de Compostela, gekonnt Allianzen zu bilden und das Regierungsschiff stets in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Das könnte sich nun aber ändern.
Kurzfristig sieht es aber vor allem für Katalonien heikel aus. Der monatelange Konflikt hat der wirtschaftsstarken Region bereits schlimme Schäden zugefügt. Mehr als 3000 zum Teil sehr wichtige Unternehmen verlegten ihren Sitz im Zuge der Krise in andere Regionen. Zigtausende Touristen blieben weg.