München/Berlin – Kreuzberger Nächte sind lang. Und diese ist vielleicht die längste von allen. Im Willy-Brandt-Haus endet sie erst am Nachmittag des folgenden Tages. Teilnehmer berichten von einer nüchternen Stimmung, als der Vorstand der gastgebenden SPD zusammenkommt. Die Sondierer sind müde und ausgelaugt. Und auch bei den Übrigen will keine Ausgelassenheit aufkommen. Sie alle kennen die skeptische Stimmung an ihrer Basis (siehe unten). Reicht dieses Ergebnis für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen? Es wird intensiv diskutiert. Und kontrovers. Am Ende stimmen 40 von 45 Genossen dafür, dem SPD-Parteitag am 21. Januar eine Annahme zu empfehlen.
Mit diesem Beschluss endet eine der denkwürdigsten Nächte, die das politische Berlin je erlebt hat. Mehr als 24 Stunden lang wird gerungen. Im großen Kreis mit 39 Sondierern, in Arbeitsgruppen, in der Sechser-Runde aus Partei- und Fraktionschefs, unter vier Augen. Selbst im Kopierraum oder dem Nebenzimmer für die Fahrer gibt es kurze Besprechungen. Der Druck ist immens: Binnen weniger Stunden müssen Kompromisse gefunden werden – bei Streitthemen, die seit Monaten hart umkämpft sind. Steuern, Asyl, Gesundheit.
Vor der Tür warten Journalisten Stunde um Stunde darauf, dass etwas vorangeht. Substanzielles dringt nicht nach draußen. Nur das: Den Unionsverhandlern schmecke die Currywürste in der SPD-Zentrale nicht, wird durchgestochen. Kanzleramtschef Peter Altmaier verstößt daraufhin um 4 Uhr nachts gegen das Twitterverbot: „Mir schmeckte es mit jeder Portion besser!!!!“
Doch Scherze sind die Ausnahme. Hinter den Kulissen ist der Druck von außen allgegenwärtig, heißt es. „Da geht es schon mal turbulent zu“, sagt SPD-Chef Martin Schulz später. „Die Belastungsfähigkeit eines möglichen Bündnisses zeigt sich auch dann, wenn es etwas emotionaler wird“, findet CSU-Kollege Horst Seehofer. Am Rande des Abbruchs steht die Sondierung allerdings nie, wie mehrere Teilnehmer beteuern. In der SPD heißt es, vor allem Andrea Nahles habe eine starke Figur gemacht. Aus der CSU verlautet, neben Seehofer sei vor allem Landesgruppenchef Alexander Do- brindt Wortführer gewesen. Gerade das gefällt nicht allen in der SPD.
Besonders hitzig wird bei Migration und Steuern gefeilscht. „Auf Biegen und Brechen, bis zur letzten Sekunde“, sagt ein CSU-Mann. Einmal kracht es richtig: Beim Thema Asyl seien die Unterhändler bereits sehr weit gewesen, heißt es aus der SPD. Das Papier steht schon, mühsam ausgehandelt mit den Ministern Thomas de Maizière, Joachim Herrmann und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier – aber plötzlich grätscht CSU-General Andreas Scheuer dazwischen und pocht auf den Begriff Obergrenze. Ralf Stegner sei stinksauer gewesen, heißt es. Vermutlich ist das der Zeitpunkt, an dem auch der SPD-Vize das Twitterverbot bricht. „Ein kleiner musikalischer Morgengruß nach Bayern“, schreibt er und hängt ein Video der Toten Hosen an. Der Song heißt „Halbstark“.
Am Ende feilt Merkel selbst an Halbsätzen. Hin und her geht es. Bis in die kleinste Verästelung. Während draußen schon der Berliner Berufsverkehr tobt, nähern sich die Verhandlungen dem Ende. Die Journalisten am Eingang erkennen das, als die Visagistin der Kanzlerin gesichtet wird. Drinnen wird Frühstück gebracht, Kaffee und Wurstsemmeln. Für ein Glas Wein, wie sonst nach unionsinternen Verhandlungen, ist es diesmal nicht die Uhrzeit. Außerdem stehen noch Sitzungen an. CDU-Präsidium, SPD-Vorstand, Unionsfraktion.
Und natürlich die obligatorische Pressekonferenz. Diesmal findet sie nicht vor der roten SPD-Wand statt. Nein, die Genossen haben eine blaue organisiert. Ein bisschen sieht es aus wie bei der CSU. Merkel (63), Schulz (62) und Seehofer (68) sind eigentlich aus dem Alter raus, in dem man sich in Berlin die Nächte um die Ohren schlägt. Müde sehen sie aus, abgekämpft. Angela Merkel unterdrückt ein kleines Gähnen, als Gastgeber Martin Schulz die Presse begrüßt. Müdigkeit? Möglich. Vielleicht liegt es aber auch an den weitschweifigen, komplizierten Ausführungen des SPD-Vorsitzenden. Alle drei brauchen diese Koalition. Ohne eine Einigung würde in jeder Partei die Führungsdebatte offen aufbrechen. Sie haben es sich nicht leicht gemacht.
Einige Sondierer haben zwischenzeitlich etwas Schlaf bekommen. Joachim Herrmann (CSU) berichtet von zweieinhalb Stunden. Ursula von der Leyen ging eine Runde spazieren. Der Kopf muss wieder frei werden. Merkel, Schulz und Seehofer mussten bleiben. Und das sieht man ihnen jetzt auch an. „Ich denke, wir haben in den letzten Tagen deutlich gemacht, dass Politik Sondierung kann – in einer ungewöhnlich kurzen Zeit“, sagt Seehofer, der noch den frischesten Eindruck macht. Die Wahl im September sei das Signal der Wähler gewesen, dass es kein weiter so geben dürfe. Nun gebe man die Antwort. Einstimmig beschließt Seehofers Sondierungsteam das Papier, am Montag soll der Vorstand in München beraten. „Wegen der Homogenität des Ergebnisses brauchen wir keinen CSU-Parteitag“, stellt Seehofer klar.
Dann geht es heim, Richtung Süden. Wie immer mit dem Auto. Auf zwei Stunden Schlaf hofft der bayerische Ministerpräsident, der abends seinen Neujahrsempfang in München gibt. Dann hat er ein wenig Ruhe. Im Gegensatz zu Martin Schulz. Für den SPD-Mann ist mit dieser Nacht noch nichts gewonnen: Er muss seine Partei erst noch überzeugen. Angela Merkel und Horst Seehofer werden das sehr aufmerksam verfolgen. Noch nie haben sie einem SPD-Chef für einen Parteitag so sehr die Daumen gedrückt. (mit dpa und afp)