Eine der beliebtesten olympischen Disziplinen war immer der Medaillenspiegel. Der Blick auf die Nationenwertung erfüllte Menschen weltweit über Jahrzehnte mit Stolz, mit Häme, manchmal mit Scham. Heutzutage jedoch ist die Gefühlslage komplizierter denn je. Mit jedem aufgeflogenen Doper kann sich so eine Rangliste ja wieder ändern.
So wild wie nach Sotschi 2014 war es noch nie. Seit gestern weist das Tableau wieder Russland – Heimat eines staatlich gelenkten Dopingprogramms – als erfolgreichste Nation aus, nachdem sie eben noch ins Mittelfeld abgerutscht zu sein schien. Wer kann es den Menschen verdenken, dass sie den olympischen Sport nicht mehr verstehen, geschweige denn: ihn respektieren. Deutlicher denn je ist seit dem Spruch des Sportgerichtshofes CAS ja, dass sich dem Betrug – und dem Betrüger – immer wieder ein Hintertürchen öffnet.
Noch ist unklar, welche der freigesprochenen Russen die Südkorea-Reise antreten werden. Je näher die Eröffnung rückt, desto vollkommener ist die Konfusion. Dass die Wettbewerbe in Pyeongchang, politisch ohnehin aufgeladen, ungetrübt ablaufen, ist längst unvorstellbar. Der Schatten der Manipulation verschluckt alles, was den Reiz in besseren Zeiten ausmachte. Früher konnten sich die Macher wenigstens darauf verlassen, dass die Flut der bunten Bilder ein unschönes Thema auch mal fortspült. Heute ist das Publikum misstrauischer. Es weiß: Dem olympischen Sport ist nichts heilig.
Marc Beyer
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