Berlin – Die mögliche Große Koalition ließ gestern Abend auf sich warten. Zwar kamen aus der Union Signale, die auf wachsenden Optimismus für einen Erfolg der Verhandlungen mit der SPD schließen ließen. So bat die CDU-Spitze um Kanzlerin und Parteichefin Angela Merkel die rund 50 Mitglieder ihres Parteivorstands, sich auf eine Sitzung an diesem Mittwoch voraussichtlich gegen 11 Uhr einzurichten. Zudem lud CSU-Chef Horst Seehofer zur Vorstandssitzung heute um 20 Uhr. Punkt zwei auf der Tagesordnung: „Billigung des Verhandlungsergebnisses für Koalitionsvertrag“. Einigungen mit der SPD bei den umstrittenen Themen Gesundheit und Arbeitsmarkt gab es allerdings bis zum späten Abend nicht. Auch um Ressortzuschnitte soll es gegangen sein, hieß es aus Verhandlerkreisen.
Doch während sich die Gespräche hinzogen, nahm das Regierungsprogramm immer deutlicher Gestalt an. An den Anfang des Koalitionsvertrags wollen Union und SPD das Thema Europa stellen, wie aus einem unserer Zeitung vorliegenden Entwurf hervorgeht. Zu Beginn der finalen Verhandlungsrunde am Dienstagmorgen hatten sich die Verhandlungspartner gegenseitig zur Kompromissbereitschaft aufgefordert. „Jeder von uns wird schmerzhafte Kompromisse noch machen müssen“, forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Der Entwurf des Koalitionsvertrags – Stand Montagmittag – umfasst 167 Seiten. Nach dem ersten Kapitel unter der Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“ wollen Union und SPD ein Kapitel mit dem Titel „Eine neue Dynamik für Deutschland“ stellen.
„Die Europäische Union ist ein historisch einzigartiges Friedens- und Erfolgsprojekt und muss es auch künftig bleiben“, beginnt das Europa-Kapitel. „Sie verbindet wirtschaftliche Integration und Wohlstand mit Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.“ Deutschland habe Europa „unendlich viel“ zu verdanken. „Auch deshalb sind wir seinem Erfolg verpflichtet. Für Deutschland ist ein starkes und geeintes Europa der beste Garant für eine gute Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand“, heißt es in dem Entwurf.
Den EU-Beitrittsprozess mit der Türkei wollen Union und SPD demnach derzeit nicht vorantreiben. „Die Lage der Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten“ in der Türkei habe sich „seit längerem verschlechtert“, schreiben Union und SPD. „Deshalb wollen wir bei den Beitrittsverhandlungen keine Kapitel schließen und keine neuen öffnen.“
Auch bleiben die möglichen Koalitionäre offenbar bei ihrer harten Linie in der Sanktionspolitik gegen Russland. Der von der SPD angestrebte schrittweise Abbau der Strafmaßnahmen schon vor der vollständigen Umsetzung des Minsker Friedensabkommens für die Ostukraine findet sich in dem Entwurf nicht wieder. „Bei Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sind wir zu einem Abbau der Sanktionen bereit und werden darüber einen Dialog mit unseren europäischen Partnern führen“, heißt es in dem Papier. Das entspricht der bisherigen Haltung.
Die von Union und SPD geplante Rentenkommission soll ihre Vorschläge für eine Rentenreform bis März 2020 vorlegen. Die Kommission solle sich „mit den Herausforderungen der nachhaltigen Sicherung und Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und der beiden weiteren Rentensäulen ab dem Jahr 2025 befassen“.
Erwartungsgemäß nicht mehr im Entwurf ist eine Abschaffung der Luftverkehrssteuer, die sich die Verkehrsexperten von Union und SPD gewünscht hatten.