Giftanschlag: London und Moskau im Krieg der Worte

von Redaktion

Ein früherer russischer Doppelagent wird in England mit Vergiftungserscheinungen aufgefunden – Die Regierung hat einen klaren Verdacht

London/Moskau – Als der britische Außenminister Boris Johnson gestern vor das Parlament tritt, wirkt er sichtlich aufgebracht. Ein Kratzer auf der Nase lässt ihn aussehen wie ein Boxer, der sich in eine weitere Runde eines schwierigen Kampfes stürzt – und er schleudert ungewöhnlich heftige Drohungen gegen Moskau.

Auslöser ist der Fall eines ehemaligen russischen Doppelagenten und seiner Tochter, die am Wochenende in der englischen Stadt Salisbury mit Vergiftungserscheinungen aufgefunden wurden. Sie kämpfen seitdem in einer Klinik um ihr Leben. Die Nachricht ruft Erinnerungen an den 2006 mit radioaktiv verseuchtem Tee in London vergifteten russischen Ex-Agenten und Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko wach. Damals führte die Spur der Mörder nach Moskau.

Sollte sich herausstellen, dass die russische Regierung mit dem aktuellen Fall zu tun hat, könne sich der Kreml auf eine „angemessene und robuste“ Reaktion aus Großbritannien einstellen, sagt Johnson. Kein Versuch, auf britischem Boden unschuldiges Leben zu nehmen, werde ohne Sanktionen oder ungestraft bleiben, poltert er. Die Regierung in Moskau dagegen gibt sich ahnungslos. „Wir haben keinerlei Informationen“, sagt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und deutete an, sein Land werde zum Opfer von Verschwörungstheorien.

Was ist geschehen? Der frühere Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU, Sergej Skripal, wurde am Sonntag zusammen mit seiner Tochter Yulia bewusstlos nahe einem Einkaufszentrum im englischen Salisbury aufgefunden. Die beiden hatten zuvor eine Pizzeria und einen Pub besucht. Die Polizei geht davon aus, dass sie in Kontakt mit einer „unbekannten Substanz“ kamen. Die Lokale und der Fundort der beiden Verletzten wurden aufwendig dekontaminiert.

Der Ex-Doppelagent Skripal kam 2010 nach Großbritannien. Schon während seines Militärdienstes soll er vom britischen Geheimdienst angeworben worden sein. Als Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU wurde er 2006 wegen Spionage verurteilt und 2010 ausgetauscht. In der größten Austauschaktion seit dem Kalten Krieg war er eine Randfigur.

Russische Geheimdienste leben nach der Regel: „Es gibt keine ehemaligen Agenten.“ Präsident Wladimir Putin steht zu seiner Vergangenheit als KGB-Vertreter in Dresden; andere Ex-Agenten sehen sich auch auf neuen Posten in Politik oder Wirtschaft den Interessen ihres Dienstes verpflichtet. Verrat wird deshalb auch nicht vergeben.

Rätselhafte Anschläge oder Todesfälle mit Russland-Bezug treten in London und Großbritannien immer wieder auf. Der exilierte Oligarch Boris Beresowski, erst Förderer, dann Feind von Putin, beging 2015 unter ungeklärten Umständen in London Selbstmord. Friedemann Kohler

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