Rabat – Noch vor dem ersten Versuch muss der Traum von Europa warten. Das linke Schultergelenk ist verstaucht, den Arm muss Suleiman in einer Schlinge tragen. So kann er sich weder auf ein Boot ziehen, noch die sechs Meter hohen Zäune an der spanischen Grenze hoch klettern.
Frustriert sitzt er zwischen hohen Pinien in einem kleinen Zeltlager auf einem Hügel bei Nador. Schlafsäcke und Decken trocknen in der Sonne. Von der marokkanischen Stadt aus kann er hinter den Reihen von Grenzzäunen Melilla erkennen. Die spanische Exklave hat neben der zweiten Exklave Ceuta die einzige Landgrenze Europas mit Afrika. Für viele Migranten sind die beiden Städte ein Traum – und ihre Grenzen oft das Ende einer wochenlangen Reise.
Immer wieder versuchen Gruppen von Flüchtlingen, die Grenzzäune zu stürmen. Zuletzt häuften sich Fälle, in denen Migranten mit Booten versuchten, die fast unüberwindbaren Zäune zu umfahren. Im Februar kenterte eines dieser Boote, 20 Menschen starben.
Über die westliche Mittelmeer-Route kamen nach Frontex-Angaben im vergangenen Jahr 23 143 Menschen. Das ist immer noch weniger als über die Libyen-Route oder das östliche Mittelmeer, der Anstieg sei jedoch frappierend, sagt Stefano Torelli vom European Council on Foreign Relations. Neben Migranten aus Guinea, Gambia oder der Elfenbeinküste seien es auch immer mehr Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien.
Die Zeltstädte in den Wäldern um Nador sind aber kein neues Phänomen. Zwischen 700 und 2000 Flüchtlinge halten sich dort nach marokkanischen Behördenangaben auf. „Man muss doch von etwas leben können“, sagt Suleiman. „Ich habe drei Kinder zu Hause in Guinea, das vierte ist auf dem Weg.“
Dann schimpft er. Auf die Landsleute, die ihm nichts von den Schwierigkeiten erzählt haben. Auf die Marokkaner, die Schwarze angriffen und auf der anderen Seite Geschäfte mit ihnen machten. Und auf die marokkanische Polizei, die ihn zusammengeschlagen habe, als er sich aus dem Wald in die Stadt getraut habe. Deshalb die Sache mit der Schulter.
„Es gibt kaum staatliche Hilfen“, sagt Boubaker Diallo, der für die Hilfsorganisation Asticude die Flüchtlinge medizinisch betreut, ihnen mit den Behörden und beim Arzt hilft. „Meistens endet die Reise hier in den Wäldern, die Zäune sind kaum noch zu überwinden.“ Ab und an käme die Polizei vorbei, zerstöre die Lager und vertreibe die Flüchtlinge.
„Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Nordafrika haben sich zusehends verschlechtert“, sagt Migrationsexperte Torelli. Trotz verstauchtem Arm will auch Suleiman die Flucht Richtung Europa wagen. „Alles ist besser als die Heimat“, sagt er. Ein paar Tage noch, sagt er, dann wolle er es versuchen. Simon Kremer