Goethe hat jeden Tag seines gewaltigen Lebens in einer knappen Tagebucheintragung festgehalten. Daher wissen wir auch, dass er am 18. März 1818, auf den Tag genau vor 200 Jahren, den zweiten Druckbogen seines West-Östlichen Diwans, Suleika, das Buch der Liebe, einer letzten Revision unterzogen hat.
Hatte eine neue Liebe neues Leben in ihm hervorgebracht? Nein. Der Dichter schwebte verjüngt auf neuer Lebensbahn, bevor er Marianne begegnete. Die Gesänge des persischen Dichters Mohammed Schemsed-Din Hafis in den Rosenhainen von Shiraz ließen Goethes Genie um die Figur seines 500 Jahre älteren Bruders im Geiste kreisen. Damit bestieg Goethe am 25. Juli 1814 in Weimar seine Reisekutsche, um in das Land seiner Jugend an Rhein und Main zu fahren: „Sind gleich die Haare weiß, doch wirst du lieben“, dichtete er unterwegs. In Wiesbaden stellte ihm sein Freund, der Frankfurter Bankier Johann Jakob von Willemer, seine Gefährtin, bald seine Ehefrau, Marianne vor. Sie war schon als Kind in sein Haus gekommen und nun mit 30 Jahren auf der Höhe weiblicher Reize.
Goethe kam zu Besuch auf den Landsitz der Willemers, die Gerbermühle am Mainufer gegenüber Frankfurt. Allen unvergesslich blieb der 18. Oktober, als man vom Türmchen auf der Gerbermühle auf die nächtlichen Freudenfeuer auf den Höhen des Taunus zum ersten Jahrestag der Befreiungsschlacht bei Leipzig schaute – ein Datum, das den Herzensbund der frisch getrauten Frau mit dem weltberühmten 65-jährigen Dichter besiegelte.
Die orientalisch maskierte ideelle Liebesbeziehung der beiden aber war nicht auf Erfüllung, sondern auf Entsagung angelegt – von Goethes Seite. Der Dichter nannte sich „Hatem“ und wählte für Marianne den Namen „Suleika“. Persisch bedeutet dieser Name so viel wie „Zierde entsagungsvoller Liebe“.
Aber es war ein Spiel mit dem Feuer. Goethe konnte sich retten, eine höhere Windung seiner Lebensspirale erreichen, doch auf Marianne kam Glück und Elend zu. Kongenial ließ sich die liebende junge Frau selbst zu den schönsten Gedichten inspirieren. Goethe hat sie stillschweigend in seinen Diwan aufgenommen.
Wir wissen, dass Marianne bis zum letzten Atemzug im hohen Alter die Begegnung mit Goethe als ihren höchsten Schatz bewahrte. Sie überlebte ihn um 28 Jahre, ihren Mann um 22 Jahre und starb 1860.
Es gab kein Wiedersehen. Doch drei Wochen vor seinem Tod, im März 1832, schickte Goethe Marianne die Briefe zurück, die sie nach Weimar gesandt hatte, mit den begleitenden Versen: „Vor die Augen meiner Lieben, zu den Fingern, die´s geschrieben – einst mit heißestem Verlangen, so erwartet wie empfangen – zu der Brust, der sie entquollen, diese Blätter wandern sollen; immer liebevoll bereit, Zeugen allerschönster Zeit.“
Diese „allerschönste Zeit“ ist es, der wir das Buch Suleika verdanken, das Herzstück des West-Östlichen Diwans. Es enthält die höchste Steigerung Goethescher Liebeslyrik, für die keine Worte der Bewunderung ausreichen.
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