Berlin – Joschka Fischer lässt sein Thema nicht los: der Zusammenhalt in Europa in Zeiten der Krise. Er hat sich morgens um zehn in Berlin unter die Zuhörer eines Vortrags der Präsidentin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, gemischt. Auch der grüne Übervater Fischer, der heute 70 Jahre alt wird, sorgt sich wie Lagarde um die Zukunft der EU, sein neues Buch heißt: „Der Abstieg des Westens: Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts“. Er wünscht sich eine einflussreichere Rolle für das von ihm sieben Jahre lang geführte Auswärtige Amt mit seinem exzellenten Apparat.
Was zu Zeiten des Außenministers Joschka Fischer die Balkan- und Nahostkrise waren, sind heute Nationalismus, Donald Trump, ein aggressives Russland, der Brexit. Das beschäftigt ihn, auch wenn der erste grüne Außenminister der Bundesrepublik (1998-2005) schon lange von der aktiven Politik losgelassen hat. 2005, nach der Abwahl von Rot-Grün, zog er sich zurück. Der „SZ“ sagte der aus Gerabronn im Landkreis Schwäbisch-Hall stammende Fischer, was ihn beim richtigen Zeitpunkt für das Loslassen besonders geprägt habe.
Er wurde 1999 Zeuge eines Auftritts von Helmut Kohl, nun nur noch einfacher Abgeordneter im Bundestag, während der Parteispenden-Affäre der CDU. „Kohl hatte als Kanzler im Plenarsaal ja die physische Präsenz des Leitbullen einer Elefantenherde“, erzählte Fischer. „Aber damals war er nicht mehr Kanzler, da hatten fast alle den Respekt vor ihm verloren.“ Außenminister Fischer saß auf der Regierungsbank. Kohl fing an, sich im Plenum zu rechtfertigen. „Er war extrem geschwächt und wurde mit Zwischenrufen angegriffen, jede Furcht vor ihm war weg.“ Fischer fragte sich: „Warum sitzt er als sein eigenes Denkmal im Bundestag herum, statt nach Oggersheim zurückzugehen?“
Regelmäßig schreibt er noch für das Portal „Project Syndicate“ kluge Stücke. Zuletzt zum von Trump losgetretenen Handelskonflikt. „Trumps protektionistische Politik fordert auch das gesamte deutsche Wirtschaftsmodell heraus, das seit den 1950er-Jahren existiert.“ Deutschland mit seinem stark auf Export basierenden Modell werde einer der großen Verlierer sein.
Geld verdient er mit seiner Beratungsagentur Joschka Fischer & Company – die im März den früheren SPD-Sprecher Lars Kühn als neuen Gesellschafter verpflichtet hat.
Fischer war seit dem Ende der politischen Karriere nie wieder auf einem Grünen-Parteitag. Er stand nie im Ruf eines begeisterten Parteisoldaten. Unvergessen der Parteitag 1999 in Bielefeld, als aus Protest gegen den von ihm mitgetragenen Nato-Einsatz im Kosovo ein roter Farbbeutel an Fischers Kopf geschleudert wurde und dort zerplatzte.
Nach dem Ausscheiden aus dem Amt war Fischer das erste Mal länger im Ausland, ein Jahr lehrte er an der US-Eliteuni Princeton, vermisste aber stark das deutsche Essen. Sowieso das Essen: Mal dünn, mal dick, viele Läufe zu sich selbst, Straßenkämpfer, Taxifahrer, Vizekanzler.
Fischer, das sind viele Leben in einem, eine deutsche Biografie. Jeder hat Bilder zu ihm im Kopf. Der Randale-Fischer zu Frankfurter Studentenzeiten, vermummt mit einem Motorradhelm, im Nahkampf mit einem Polizisten. Der Turnschuh-Fischer, bei der Vereidigung als erster Landesumweltminister der Grünen 1985 in Hessen. Der Staatsmann Fischer im Nadelstreifenanzug auf internationalem Parkett.
Der Erfolg der 68er-Bewegung ist aus seiner Sicht, dass die Gesellschaft gelüftet und liberaler wurde. Er war als Politiker nie Vorsitzender der Grünen, wurde aber zum führenden Kopf, nachdem der Partei 1983 der Einzug in den Bundestag gelang. Zum historischen Inventar der Bundesrepublik gehört sein Zwischenruf 1984 an Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen: „Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch.“
In der Bonner Kneipe „Provinz“ heckte er damals lange vor Rot-Grün mit dem späteren Kanzler Gerhard Schröder Regierungspläne aus, mit Kabinettslisten auf dem Bierdeckel. Fischer hat Schröder voraus, dass er mit der Filmproduzentin Minu Barati schon in seiner fünften Ehe lebt, Schröder plant diese gerade.
„Deutschland ist in dieser Zeit ein anderes Land geworden“, sagte er über die rot-grünen Jahre. Nein zum Irak-Krieg, Atomausstieg, Umweltschutz, Eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle, Agenda 2010. Heute bearbeitet er vehement mit Worten die AfD, die dem „linksversifften“ liberalen Wandel jener Generation den Kampf angesagt hat. In einem Interview mit dem RBB rief er in Zeiten des demografischen Wandels zu einer positiv besetzteren Debatte über den Zuzug von Flüchtlingen auf, statt sich dem AfD-Kurs anzubiedern. „Wer wird Herrn Gauland pflegen, wenn er mal ein Pflegefall wird?“, meinte Fischer mit Blick auf Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland. „Die Pflegekraft wird garantiert nicht blond und blauäugig sein.“ Georg Ismar