München – Seit 15 Jahren ringt die SPD mit den Agenda-Reformen von Altkanzler Gerhard Schröder. Der eher linke Teil der Partei möchte die Regelungen verdammen und die Sozialgesetze radikal erneuern. Der nicht ganz so linke Parteiflügel plädiert für Anpassungen an die viel zitierte Lebenswirklichkeit der rund sechs Millionen Empfänger, will aber das „Hartz IV“ genannte Arbeitslosengeld II behalten.
Nun liefert der großkoalitionäre Frühling 2018 ein neues Kapitel dieses sozialdemokratischen Klassikers. Freilich unter verschärften Bedingungen. Denn während die SPD nach langem Zaudern nun doch wieder mit der Union die Bundesregierung stellt, hat sich das Wörtchen „Erneuerung“ in jede halbwegs ambitionierte SPD-Politiker-Rede dieser Tage eingeschlichen. Bei der eigenen Basis finden aber viele: Erneuerung ohne grundsätzliche Abkehr von Hartz IV, das funktioniert nicht.
Also pult die Partei wieder in ihrer größten Wunde. Dass nämlich die Einführung von Hartz IV Millionen SPD-Wähler nach links oder ganz rechts getrieben hat, ist mittlerweile auch im Willy-Brandt-Haus unstrittig.
Bei den Sozialdemokraten ist man sich einig, dass die Sanktionsmöglichkeiten für junge Hartz-IV-Bezieher zu heftig sind. Für unter 25-Jährige Arbeitssuchende gilt: Schon nach der ersten sogenannten Pflichtverletzung kann ihr Hartz-IV-Satz für drei Monate ausgesetzt werden. Übersetzt: Wer eine Bildungsmaßnahme abbricht oder eine vom Jobcenter für zumutbar befundene Arbeit ablehnt, kriegt oft drei Monate kein Geld.
Seit Jahren grübeln und stöhnen Juristen über die Frage, ob diese Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Bisher gibt es kein richtungsweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, auch wenn mehrere Fälle dort zur Prüfung liegen. Im Kern geht es um die große Frage: Gibt es in der Gesellschaft ein Netz, durch oder neben das wirklich niemand fallen kann? Oder muss jeder Mensch auch Pflichten einhalten, um sich in diesem Netz aufzuhalten?
Schon klar: So groß und grundsätzlich verkauft die SPD-Spitze das Thema bisher nicht. Man versucht – auch notgedrungen, weil nicht aus der Opposition heraus – kleine Schritte. Der neue Arbeitsminister Hubertus Heil liefert im Wochentakt neue Einlassungen zu Hartz IV. Er will die Regelsätze (derzeit sind es für einen Alleinstehenden 416 Euro im Monat) wohlwollend prüfen lassen und Langzeitarbeitslose fördern. Von Wohl-bald-Parteichefin Andrea Nahles stammt der erwähnte Vorstoß, junge Arbeitssuchende nicht so hart zu sanktionieren. Und Noch-Parteichef Olaf Scholz? Der hütet als Minister nun die Finanzen der Bundesrepublik, schaut also in erster Linie aufs Geld.
Aus SPD-Sicht ist die Lage wirklich vertrackt. Von CDU und CSU, dem ungeliebten Regierungspartner, kommt auch kein Zeichen des Entgegenkommens. Deren Fraktionsvize Hermann Gröhe bemerkt zu Nahles’ Vorstoß: „Wir halten an den Sanktionen fest.“ Begründung: Wer die Solidarität der Gemeinschaft zur Sicherung seiner Lebenshaltungskosten in Anspruch nehme, habe die Verpflichtung zur Mitwirkung. Ende der Durchsage.
Zur Einordnung: Im Jahr 2017 sprachen die Jobcenter knapp 953 000 Sanktionen aus, die Zahl der Sanktionierten ist aber deutlich geringer. Die meisten Sanktionen sind die Reaktion auf versäumte Gespräche mit dem Sachbearbeiter sowie andere Meldeversäumnisse. Diese Verstöße werden mit vorübergehenden Kürzungen des Hartz-IV-Satzes um zehn Prozent bestraft. Rund ein Viertel sind sogenannte Pflichtverletzungen wie das Ablehnen eines „zumutbaren“ Jobangebots. Diese werden bei Menschen ab 25 Jahren zunächst mit 30 Prozent, im Wiederholungsfall auch mit 60 Prozent oder einer kompletten Streichung des Geldes sanktioniert.
SPD-Fraktionschefin Nahles hat nun erklärt: „Die Frage ist doch: Was brauchen wir im Jahr 2025 für einen Sozialstaat? Und nicht: Was war im Jahr 2003?“ Wie sie die erste Frage ohne die zweite beantworten will, dürfte maßgeblich über ihren Erfolg entscheiden. Maximilian Heim