Ich besitze noch das Kalenderbuch meiner Mutter für das Jahr 1945. 2018 und 1945 bilden kalendermäßig ein vollkommen „identisches“ Jahr. Es gibt sogenannte gleiche Jahre, in denen alle Wochentage das gleiche Datum haben. Dazu gibt es auch Jahre, in denen die beweglichen Feiertage, die sich nach dem Mondgang richten, auf das gleiche Datum fallen, wobei aber die normalen Wochentage andere Daten haben.
So ein mit 2018 gleiches Feiertagsjahr war zum Beispiel 1956. Ganz, ganz selten aber kommt es vor, dass zwei Jahre vollkommen identisch sind, sowohl in ihren Wochentagen als auch in den beweglichen Feiertagen, so wie es ausgerechnet 1945 mit 2018 der Fall ist. Vielleicht kann ein kalenderkundiger Leser dieses Beitrages uns aufklären, wie oft diese vollkommene Identität von Sonnen- wie Mondkalender überhaupt vorkommt?
Interessant am gedruckten Teil im Kalender der Mutter ist aber auch, wie der Krieg und das Nazi-System das Kalendarium geprägt haben. Von Feiertagen, wie Christi Himmelfahrt am 10. Mai 1945, heißt es kurz und bündig: „Wird während des Krieges auf den nachfolgenden Sonntag verlegt.“
Dazu sind Gedenktage verzeichnet, die es heute gottlob nicht mehr gibt. Zum 30. Januar heißt es: „1933 Gründung des Dritten Reiches“, am 20. April „Geburtstag des Führers (1889)“. Und natürlich weiß dieser Kalender auch, wer nach der Lügenpropaganda des Regimes den Krieg begonnen hat. Zum ersten September heißt es „1939 deutscher Gegenangriff in Polen“. Darauf folgt schon am 3. September: „Kriegserklärung Englands und Frankreichs.“
Merke: Im Reiche Hitlers wurde in allem gelogen, was öffentlich war, bis zum Kalenderblatt für das Jahr, in dem das Regime endlich zugrunde ging. Die handschriftlichen Eintragungen meiner Mutter in das Kalenderbuch haben dagegen eine beruhigende Normalität gegenüber den schlimmen gedruckten Angaben des Büchleins. Am 4. April, dem Tag unserer Flucht vor den heranrückenden Russen, ist es ihr noch wichtig zu vermerken, dass die Zugehfrau „drei Reichsmark“ bekommen hat; auch dass sie zwei Wochen vorher nicht nur wie üblich drei, sondern sogar sechs Stunden gearbeitet hatte, ist ein paar Tage vorher festgehalten. Wir sollten hoffen, dass die Zugehfrau die drei Mark meiner Mutter noch gut hat ausgeben können, als der Russensturm über Berlin hereinbrach.
Es ist immer so in der Weltgeschichte, auch bei den großen Einschnitten geht das Leben im Kleinen, von dem die Geschichtsbücher nichts vermelden, unverändert seinen Gang. Das ist ein tröstlicher Strom der Zuversicht und der Hoffnung, der unser Leben auch bei Katastrophen begleitet. In einer Zeitungsausgabe vom 2. Mai 1945, die mir vorliegt, sucht ein braver Gemüsegärtner per Anzeige „Bohnenstangen“, ein Händler möchte ein „Ölgemälde“ verkaufen, ein Gasthof sucht eine tüchtige „Kassierin“. Ein anderer Inserent möchte ein Paar neue „Mädchen-Halbschuhe“ Größe 33 eintauschen gegen ebensolche der Größe 35. Das ist die gelebte Wirklichkeit des Luther zugeschriebenen Satzes: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“
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