SPD-Parteitag

Das Signal der Unzufriedenen

von Redaktion

von Werner Kolhoff

Wiesbaden – Andrea Nahles schluckt erkennbar, als sie sagt: „Ich nehme die Wahl an“. Ihr Gesicht ist ernst, sie wirkt geschockt. 66,35 Prozent Zustimmung auf dem SPD-Parteitag in Wiesbaden, das ist dann doch deutlich weniger, als sie selbst und alle anderen Führungsleute gedacht haben. Fast ein Drittel der 631 Delegierten votiert für die völlig unbekannte Gegenkandidatin Simone Lange oder enthält sich der Stimme.

Angefangen hat es anders. Olaf Scholz, kommissarischer Parteichef, spricht zu Beginn von einem „historischen“ Ereignis, weil die SPD zum ersten Mal nach 155 Jahren jetzt eine Frau als Vorsitzende bekommt. Und Nahles hält eine fulminante Vorstellungsrede. Von Beginn an lässt die Fraktionschefin ihre mächtige Stimme dröhnen; ihren Vorteil, eine gute und routinierte Rednerin zu sein, spielt sie voll aus. Sie grinst häufig. Ihre Mutter Gertrud ist da. In der ersten Reihe sitzen fünf ehemalige Parteivorsitzende, auch Martin Schulz und Sigmar Gabriel sind gekommen.

Es ist der größte Tag in der politischen Karriere der 47-Jährigen, und man merkt, dass sie stolz und glücklich ist. Sie redet sehr emotional, spricht über ihre Lebensgeschichte, ihren Weg aus einfachem Hause und über das Prinzip der Solidarität, das die SPD nun für die Herausforderungen der Zukunft neu definieren müsse. Ihre Ansprache endet mit einem selbstbewussten „Es wird uns gelingen, wir packen das“. Dann kommt der Abstimmungsschock.

Simone Lange hatte vor ihrer Bewerbung keinerlei bundespolitische Bedeutung. Sie ist Oberbürgermeisterin von Flensburg. Ihre Kandidatur erklärte sie vor neun Wochen aus Protest gegen die Parteiführung in Berlin, die die Nachfolge von Martin Schulz mal wieder ausgekungelt hatte. „Ich bin heute eure Alternative“, ruft die 41-Jährige bei ihrer Vorstellung aus. Lange setzt auf jene Teile der Basis, die mit dem Parteiestablishment unzufrieden sind. Einige ihrer Unterstützer halten Plakate hoch: „Liebe Delegierte, schreibt Geschichte, wählt Simone“, steht darauf.

Tatsächlich hat es das in der SPD noch nie gegeben, dass jemand von ganz unten gegen einen von den Führungsgremien einmütig Auserkorenen zu kandidieren wagt. Anfangs hat die Parteiführung Lange deshalb wie einen Störenfried betrachtet. Nahles mied jede direkte öffentliche Konfrontation. Doch dann registrierte man in Berlin eine kritische Basisstimmung. Lange sammelte Gegner der Großen Koalition, von Hartz IV und den Russland-Sanktionen um sich. Das Willy-Brandt-Haus schaltete auf faire Behandlung um.

Beide Bewerberinnen dürfen in Wiesbaden 30 Minuten reden – Lange schöpft ihre Redezeit nicht aus. Nach 16 Minuten endet die Flensburgerin bereits. Blass und tonlos spricht sie, das knallrote Kleid ist das auffälligste an ihrem Auftritt. Aber auf die Performance kommt es hier nicht wirklich an. Lange thematisiert all das, was die Unzufriedenen umtreibt: Das Ziel ausgeglichener Haushalt nennt sie „Zahlensklaverei“, sie spricht von einem „schleichenden Teufelskreis der Entstaatlichung“ und entschuldigt sich bei den Bürgern förmlich für die Hartz-Gesetze, die Menschen arm gemacht hätten. Die Agenda-Reformen will sie rückabwickeln. Die SPD müsse wieder eine wirklich soziale Partei werden.

Nahles lässt sich nicht darauf ein, ihre Herausforderin zu kritisieren. Wie der Parteitag überhaupt in jedem Moment fair bleibt. Mit einem Ergebnis zwischen 70 und 80 Prozent für Nahles hatten die meisten im Vorstand gerechnet; es wäre ein optimaler Ausgang gewesen. Die Nein-Stimmen, die es sowieso gegeben hätte, hätte man auf den Umstand der Gegenkandidatur geschoben. Nach dem Wahlgang ist in Nahles’ Umgebung davon die Rede, dass das Ergebnis „sehr realistisch die gegenwärtige Lage“ widerspiegele. Ein Drittel der Partei sei ja auch gegen die Große Koalition gewesen: „Das ist eben die Stimmung momentan.“

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