Bagdad – Milde, nein, die ist ihm nicht gerade ins Gesicht geschrieben. Meist schaut Muktada al-Sadr, 44, sogar recht grimmig, so sehr, dass man ihm diese Sätze gar nicht zutrauen würde: „Meine Tür ist geöffnet und meine Hand ausgestreckt“, schrieb er am Mittwoch auf Twitter. Das war als Gesprächs-Einladung an andere Parteien gedacht. Es gelte, eine unbestechliche Regierung aus Technokraten zu bilden, schrieb er weiter. „Außerhalb der Reichweite des Diebstahls der Parteien.“
Noch ist es nicht offiziell. Aber laut der vorläufigen Endergebnisse ist al-Sadrs Reformbewegung Sairun (Wir marschieren) der Überraschungssieger der Parlamentswahlen im Irak. In sechs von 18 Provinzen erhielt sie am Samstag die meisten Stimmen, darunter auch in der Hauptstadt Bagdad. Die Allianz von Ministerpräsident Haider al-Abadi liegt nur auf Platz drei. Für das Machtgefüge im Irak ist das ein echtes Beben.
Schon lange herrscht unter vielen Irakern tiefer Frust über die politische Kaste, die seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 das Land regiert. Sie beklagen Korruption, dauernde Stromausfälle – obwohl der Irak eines der ölreichsten Länder der Welt ist –, kaputte Straßen, hohe Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt die Zerstörung großer Teile des Landes durch den IS, der inzwischen als besiegt gilt. Im Wahlkampf hat al-Sadr vor allem der ausufernden Korruption und Vetternwirtschaft den Kampf angesagt. Nicht die Konfession dürfe darüber entscheiden, wer ein Amt bekomme, sagte er, sondern die Qualifikation.
Das waren frische Töne von einem, der selbst einige Widersprüche in sich vereint. Al-Sadr ist Sohn eines ranghohen Klerikers und selbst schiitischer Geistlicher. Nach Saddams Sturz erwarb er sich den Ruf eines radikalen Predigers, kämpfte lange an der Spitze der Mahdi-Armee gegen US-Truppen im Irak und terrorisierte mit ihr die sunnitische Minderheit. Danach verbrachte er mehrere Jahre im Iran zu religiösen Studien. Den Rang eines Ajatollahs erreichte er aber nie. Manche spotten, das hänge mit seiner Vorliebe für Videospiele zusammen. Es gibt auch einen passenden Spitznamen: „Mullah Atari“ – nach den berühmten Atari-Spielen. 2011 kehrte al-Sadr in den Irak zurück und schlug plötzlich pragmatische Töne an. Der Radikale war zum Vermittler geworden.
Jedenfalls tritt er seither so auf, als Pragmatiker, der das politische System verändern will. Schon der Name seiner Liste „Wir marschieren“, der stark an die „En-marche“-Bewegung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erinnert, soll Ausdruck dessen sein. Die Liste ist überkonfessionell, sie umfasst auch säkulare Aktivisten und sogar Kommunisten.
Für Ali Hussein Abud, Kandidat der Kommunisten auf der Sairun-Liste, ist das kein ungewöhnlicher Zusammenschluss: „Al-Sadr hat keine islamische oder religiöse Agenda“, sagt er. Außerdem gebe es viele politische Gemeinsamkeiten. Die Carnegie-Stiftung glaubt sogar, al-Sadr sei Iraks „neuer Staatsmann“ und repräsentiere ein Abrücken vom Konfessionalismus, der das Land zerstört habe.
Wie die Kommunisten wendet sich auch al-Sadr gegen den Einfluss der USA und anderer auswärtiger Mächte im Irak. „Wir sind gegen jede Besatzung, ob sie nun aus dem Westen oder Osten kommt“, sagt Ali Hussein Abud. Besonders im schiitischen Iran hört man das nicht gerne. Der hat in den vergangenen Jahren seinen Einfluss auf den Irak in der Absicht ausgebaut, einen schiitischen Gürtel bis zum Libanon zu errichten. Al-Sadr, obwohl selbst Schiit, ist aber auf Distanz zu Teheran gegangen. 2017 besuchte er sogar dessen Erzrivalen, das sunnitische Saudi-Arabien.
Der Westen hoffte bei der Wahl auf einen Sieg von Regierungschef Haidar al-Abadi. Einfacher wird das Verhältnis zum Irak nun nicht. Ein westlicher Diplomat ist trotzdem überzeugt, dass al-Sadrs Sieg nicht unbedingt negativ sein muss. Mit Europa könne der Kleriker gut leben, sagt er: „Ich traue ihm auch einen Ausgleich mit den USA zu.“
Viel hängt davon ab, mit welchen Partnern al-Sadr eine Regierung bildet. Und wer Ministerpräsident wird. Im anvisierten Kabinett der Technokraten kann al-Sadr selbst kein Amt übernehmen, weil er bei der Wahl gar nicht als Kandidat antrat. Die Verhandlungen über eine Regierung dürften schwer werden – schon allein, weil in dieser Woche der Fastenmonat Ramadan beginnt, in dem das politische Leben eigentlich stillsteht.