Berlin/München – Mit ein paar guten Bekannten Fußball schauen und ein bisschen plaudern: Das ist eine grobe Untertreibung des frühen Sonntagabends der Bundeskanzlerin. Ja, sie hat das WM-Spiel verfolgt, am Fernseher in der CDU-Parteizentrale in Berlin. Angela Merkels Gäste klingen aber mehr nach Arbeit als nach Vergnügen: Mit den Ministerpräsidenten Volker Bouffier (Hessen), Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen), Daniel Günther (Schleswig-Holstein), Unionsfraktionschef Volker Kauder sowie Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer kam die engste CDU-Spitze in ihr Büro. Um das Spiel zu sehen. Und um im Anschluss ein Krisengespräch zu führen über die Lage der Union.
Eine schnelle Lösung im erbitterten Streit um Zurückweisungen ist auch nach diesem hektischen Wochenende und dem CDU-Treffen nicht in Sicht. Allerdings ist vage eine Kompromisslinie erkennbar: Bundesinnenminister Horst Seehofer könnte sich von seinem Parteivorstand heute das Mandat für Zurückweisungen an der Grenze geben lassen, dies durch eine Aufstockung der Bundespolizei in Süd- und Ostbayern vorbereiten, aber nicht sofort umsetzen. Man müsse „stark und klug“ sein, erfuhr unsere Zeitung am Sonntagabend aus der engsten Parteispitze.
Eigentlich hatte Merkel dieses Angebot schon in einer kleinen Runde am Mittwochabend abgelehnt. Nun, wo sie massiv in Bedrängnis geraten ist, könnte sie es neu in Erwägung ziehen. Unter Hochdruck laufen ihre Bemühungen an, in den nächsten zwei Wochen in bilateralen Gesprächen und dann auf dem EU-Gipfel eine europäische Lösung zu erreichen. Ihre Sekundantin Kramp-Karrenbauer verbreitet: „Wir sind uns einig, dass diejenigen, die woanders Asyl beantragt haben, gar nicht erst ins Land gelangen sollen.“ Dies solle aber „auf der Grundlage von Vereinbarungen mit betroffenen Ländern erreicht werden, zum Beispiel Italien, Griechenland und Bulgarien“.
Im Gegenzug beschreibt Seehofer in einem Gastbeitrag der „FAZ“, für wie wichtig er den Gipfel hält. Er verlangt einen „wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen und eine faire Verteilung der Menschen mit Bleiberecht“ sowie schnellere Rückführungen. Eventuell soll Frontex ausgebaut und mit erheblich mehr Geld ausgestattet werden.
Bereits heute kann Merkel mit Italiens Ministerpräsidenten Giuseppe Conte in Berlin ausloten, ob solche Abkommen möglich sind. Doch Conte ist eher Überbringer einer Nachricht als eigenständig Handelnder. Der „Regisseur im Verborgenen“ der populistischen Regierung ist Innenminister und Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini. Der Chef der ausländerfeindlichen Lega will sich vor allem in der Migrationspolitik als Hardliner profilieren – und ganz Europa unter Druck setzen. Vor allem in Österreich, in den Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen, aber auch in Seehofer sieht Salvini seine Verbündeten
Die CSU jedenfalls hat die Kanzlerin aufgeschreckt und mächtig unter Druck gesetzt. Viel Persönliches dürfte im Konflikt drinstecken, das zeigt das Bekanntwerden einer Seehofer-Äußerung vom Donnerstag. Da soll er in enger Runde mit CSU-Ministern gesagt haben: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“ Offiziell bestätigt wird das Zitat nicht; die Animositäten sind aber unübersehbar.
In Berlin werden deshalb auch schon Extrem-Szenarien durchgespielt, der Rauswurf Seehofers mitsamt dann folgendem Austritt der CSU aus der Regierung. Die Fraktionsgemeinschaft der Union würde brechen, die CDU könnte bis Mitte Juli laut „FAZ“ sogar eigene Kandidatenlisten für Bayern aufstellen. Für den Bund bieten sich die Grünen bereits als Partner für CDU und SPD an. Der Münchner Abgeordnete Dieter Janecek sagt fröhlich: „So verantwortungslos und chaotisch wie die CSU gerade agiert, wäre ein schneller Bruch dieser Koalition im Bund eine Chance, im Parlament neue proeuropäische Mehrheiten zu bilden.“