München – Am Sonntag wählen die Menschen in der Türkei Parlament und Präsidenten. Türkei-Kenner Baha Güngör geht davon aus, dass Erdogan Staatschef bleibt – zur Not mit hässlichen Mitteln.
-Es gibt Berichte und Umfragen, wonach Erdogans Wiederwahl nicht sicher sei. Wie sehen Sie das?
Diese Einschätzung teile ich nicht. Auch der nächste Präsident der Türkei wird Recep Tayyip Erdogan heißen. Wenn er am Sonntag nicht schon die absolute Mehrheit holt und in eine Stichwahl muss, dann wird er diesen zweiten Wahlgang nur stattfinden lassen, wenn er sich sicher ist. Sonst wird er verschieben.
-Naiv gefragt: Ist das rechtlich möglich?
Ja, es gibt eine Passage in der Verfassung, die das Verschieben von Wahlen aus „Sicherheitsgründen“ ermöglicht. Es gibt auch Abgeordnete aus Erdogans AKP-Partei, die sagen: Wenn wir die Wahlen verlieren, dann werden sie eben wiederholt. Ich rechne mit legalen und illegalen Manipulationen. In welcher Dimension, das müssen wir noch abwarten.
-Am Sonntag wählt die Türkei Präsident und Parlament. Aber ist in einem Präsidialsystem die Wahl der Volksvertreter nicht herzlich egal – weil stets der Präsident entscheidet?
Derzeit stimmt das, weil immer noch der Ausnahmezustand gilt. Dieser Zustand ermöglicht Erdogan, mit Dekreten zu regieren. Aber final zur Abnicker-Bühne degradiert ist das Parlament noch nicht. Auch wenn die Kräfteverhältnisse zuletzt deutlich zugunsten des Präsidenten verschoben wurden.
-Was ist mit der Opposition, die offenbar erstmals halbwegs vereint antritt?
Dieses sogenannte Bündnis ist nicht homogen. Das sind Nationalisten, Religiöse, Konservative. Selbst die Atatürk-Partei CHP mit dem aussichtsreichsten Kandidaten Muharrem Ince ist nicht geschlossen. Schwer vorstellbar also, dass die Opposition bei einer möglichen Stichwahl geschlossen für Ince stimmt. Unter den Nationalisten etwa gibt es immer noch viele Sympathien für Erdogan.
-Knapp jeder zweite wahlberechtigte Türkeistämmige in Deutschland hat schon abgestimmt. Ein Indiz oder nur eine Zahl?
Ich würde das nicht überinterpretieren – und gehe davon aus, dass die AKP wieder die meisten Stimmen unter den Wahlberechtigten hier erhält. Dazu kommt: Viele Oppositionelle wagen sich gar nicht in die Konsulate, weil das territoriales Gebiet der Türkei ist – und sie ihre Festnahme fürchten müssen.
-Ihre Bestandsaufnahme der Türkei?
Das Land driftet von einem autoritär geführten Staat derzeit unter Erdogan in eine Diktatur. Das hat alles nichts mehr mit einem pluralistischen, demokratischen System zu tun. Die nach dem Putschversuch 2016 verhafteten Menschen – Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Journalisten, Wissenschaftler – sitzen größtenteils immer noch in Haft. Genau wie der Chef der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas. Die Medien sind gleichgeschaltet. An all dem wird sich auch nichts ändern.
Interview: Maximilian Heim