Istanbul – Die „Osmanische Ohrfeige“ war eine sagenumwobene Nahkampftaktik von Soldaten des osmanischen Heeres, der Schlag mit der flachen Hand soll einst Menschen und sogar Pferde außer Gefecht gesetzt haben. Geht es nach Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, soll bei der Präsidenten- und Parlamentswahl an diesem Sonntag das Volk der Opposition die verheerende Klatsche verpassen. „Sind wir bereit, ihnen am 24. Juni so eine Osmanische Ohrfeige zu geben?“, fragte er in einer Wahlkampfrede vor jubelnden Zuhörern. „Dafür werden wir hart arbeiten. Kein Zurücklehnen, kein Innehalten!“
Ob das reichen wird? Erdogan absolviert mehrere Auftritte täglich, sein Wahlkampf wirkt verglichen mit früher aber kraft- und einfallslos. Immer dieselben Phrasen, immer dasselbe Eigenlob: Seine Regierung habe Brücken und Flughäfen, Straßen und Krankenhäuser gebaut. Die Opposition sei ein „Zerstörungsteam“. Vom Enthusiasmus, von der Energie früherer Wahlen ist wenig zu spüren.
Die Opposition wittert dagegen erstmals seit Jahren Morgenluft. Der Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, kann Erdogan rhetorisch das Wasser reichen und begeistert Zuhörer mit seiner Schlagfertigkeit. Nach mehr als 15 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang. „Ein müder Mann kann die großen Probleme der Türkei nicht lösen“, rief er kürzlich. „Es braucht frisches Blut, frisches Blut!“ Tatsächlich wirkt Erdogan in diesem Wahlkampf manchmal, als leide er unter dem Phänomen, das er selber Teilen seiner AKP attestiert hat: „Metallermüdung“.
Erdogan wird bei der Präsidentenwahl unter den sechs Kandidaten die meisten Stimmen gewinnen, daran lassen Umfragen keinen Zweifel. Offen ist aber, ob er am 8. Juli in die Stichwahl muss. Der Gegenkandidat hieße dann wohl Ince, er könnte auf die Stimmen von Erdogan-Gegnern auch aus anderen Lagern als dem der kemalistischen CHP setzen. Selbst die pro-kurdische HDP – sonst keine Freundin der CHP – hat angekündigt, in einer zweiten Runde Ince zu unterstützen.
Aus Sicht von Erdogans Gegnern könnte es die letzte Chance sein, die von ihnen befürchtete „Ein-Mann-Herrschaft“ zu verhindern. Denn mit den Wahlen tritt das Präsidialsystem in Kraft: Der neue Präsident wird Staats- und Regierungschef. Erdogan hätte seine Macht über Jahre zementiert – wenn er die Wahl denn gewinnt.
Schon jetzt ist nicht nur die EU extrem besorgt über die Lage: Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ließ die Regierung Zehntausende inhaftieren oder aus dem Staatsdienst entfernen. Die meisten Medien stehen direkt oder indirekt unter Regierungskontrolle. Journalisten und Oppositionelle wurden unter fragwürdigen Terrorvorwürfen inhaftiert. Der Präsidentschaftskandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, muss aus dem Gefängnis heraus antreten.
Bis heute gilt der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand, unter dem Erdogan per Dekret regiert und unter dem gewählt wird. Dass Erdogan nun angekündigt hat, den Ausnahmezustand nach der Wahl aufzuheben, ist womöglich ein Anzeichen für Nervosität: Das Ende der umstrittenen Maßnahme ist eine Kernforderung der Opposition.
Spätestens in der Stichwahl würde Erdogan vermutlich gewinnen, doch eine zweite Wahlrunde könnte neue Dynamiken freisetzen. Erdogans Nimbus der Unschlagbarkeit wäre angekratzt. Für die Opposition wäre es schon ein großer Erfolg, würde sie ihn in die Stichwahl zwingen.
Erdogan hat das Land tief gespalten: Etwa die Hälfte der Türken unterstützt ihn, oft bedingungslos. Die andere Hälfte lehnt ihn aus ganzem Herzen ab, dazwischen gibt es nichts. Ince kündigt an, diese Spaltung überwinden und ein Präsident für alle sein zu wollen. „Wir werden nicht darauf achten, ob jemand Kopftuch trägt oder nicht“, sagt er. „Wir werden uns nicht darum kümmern, ob jemand Miniröcke trägt. Uns wird nicht interessieren, ob jemand Kurde oder Türke ist oder welche Konfession er hat.“
Wenn das Ziel der vorgezogenen Wahl war, die Opposition zu überrumpeln, hat das nicht funktioniert. Hintergrund des ungewöhnlichen Schrittes dürfte die Sorge gewesen sein, dass sich die wirtschaftliche Lage bis zum ursprünglichen Wahltermin im November 2019 noch weiter verschlechtert. Lösungen hat Erdogan kaum zu bieten, sieht man davon ab, dass er die Bevölkerung dazu aufrief, ersparte Devisen in Lira umzutauschen. Stattdessen verspricht er neue Stadien, Parks und Volkskaffeehäuser, in denen Kaffee, Tee und Kuchen rund um die Uhr gratis sein sollen.
Erdogans Lager gibt sich kurz vor der Wahl gewohnt siegessicher – bislang ist es ja noch immer gut gegangen. AKP-Innenminister Süleyman Soylu sagt: „Ich glaube daran, dass es am Sonntagabend in allen Städten der Vernachlässigten und Unterdrückten Freudenschreie geben wird.“