Egal, wie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an diesem Sonntag ausgehen – für die Türkei werden sie eine Zeitenwende einläuten. Schafft Präsident Erdogan für sich und seine Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit, ist der Abschied von Demokratie und Pluralismus am Bosporus für lange Zeit besiegelt. Die jetzt schon autokratische Herrschaft Erdogans, die Kritik und Opposition beliebig mit dem Bannstrahl des Terrorismusverdachts belegt, wird zunehmend diktatorische Züge annehmen, die letzten Reste funktionierender Institutionen, wie sie das westliche Demokratiemodell vorsieht, mutieren zur bloßen Dekoration. Atatürks Erbe wird begraben, die Türkei endgültig zur islamischen Republik umgebaut – so wie es Erdogan schon immer wollte.
Doch obwohl der Urnengang unter den Bedingungen des Ausnahmezustands durchgeführt wird, könnte es sein, dass Erdogan der totale Erfolg verwehrt bleibt. Trotz der Überrumpelungstaktik des Sultans präsentiert sich die Opposition bei der vorgezogenen Wahl nämlich überraschend lebendig und verfügt mit CHP-Spitzenkandidat Muharrem Ince über einen volksnahen Herausforderer. Schafft es die prokurdische HDP über die Zehnprozent-Hürde, droht Erdogans Parteienbündnis an der absoluten Mehrheit im Parlament zu scheitern. Das wiederum könnte zur Initialzündung für einen gesellschaftlichen Aufstand gegen den totalen Machtanspruch des Mannes im Protzpalast von Ankara werden.
„It’s the economy, stupid!“ Der Slogan des früheren US- Präsidenten Bill Clinton über die Stärke der Wirtschaft als wahlentscheidendem Faktor gilt auch für die Türkei. Noch brummt der osmanische Motor. Zweistellige Inflationsraten und ein deutlicher Währungsverfall sind aber Vorboten kommender Unbill und bereiten Sorgen. Erdogan ist am Sonntag Favorit. Aber – siehe Fußball-WM – nicht jeder Favorit geht auch als Sieger vom Platz.
Alexander Weber
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