München – Akin Ö. ist kein alter Mann, um die dreißig erst, aber er hat mehr erlebt als viele in einem ganzen Leben. Vor fünf Jahren noch war er ein junger Reporter in der Türkei, unterwegs für die Tageszeitung „Zaman“, einst das auflagenstärkste Blatt des Landes. Ö. berichtete unter anderem über die Korruptionsvorwürfe gegen Minister der Regierung von Recep Tayyip Erdogan.
„Ich habe einfach meinen Beruf gemacht und die Regierung kritisiert“, sagt Ö. heute. Seit zwei Jahren lebt er in Bayern. Mit seiner Frau ist er über den Balkan geflohen, ein Flüchtling von vielen in diesem Wahnsinnsjahr 2016, in dem Trump US-Präsident wurde und die Türkei endgültig keine Demokratie mehr war.
Letzteres sagt jedenfalls Ö., während er auf dem Handy nach seinen Notizen sucht. Er hat sich vorbereitet auf das Treffen, viele Seiten getippt und wieder verworfen. „Ich kann besser auf deutsch schreiben als sprechen“, sagt Ö. entschuldigend. Dabei spricht er schon jetzt besser als mancher, der fünfmal so lange hier lebt.
Der finale Grund für den großen Bruch in seinem Leben ist die Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016. In der Türkei kommt es zu einem Putschversuch. Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, am Ende sind 290 Menschen tot. Noch in der Nacht erklärt Staatschef Erdogan den Putsch für gescheitert, bis heute sind die genauen Hintergründe unklar.
Klar ist dagegen, welche Deutung nach dem Willen Erdogans obsiegen soll. Schuld an dem Putschversuch seien Anhänger der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, lässt Erdogan wissen. Und beginnt eine gewaltige Säuberung des Staatsapparats, die zehntausende Juristen, Verwaltungsmitarbeiter, Ärzte und Lehrer betrifft.
Auch regierungsunabhängige Medienhäuser werden als Reaktion auf die Putschnacht geschlossen (nachdem sie davor bereits unter staatliche Aufsicht gestellt worden sind). Es ist auch das endgültige Aus für die „Zaman“-Redaktion, für die Ö. allerdings im Juli 2016 nicht mehr arbeitet. Er ist inzwischen zur Boulevardzeitung „Meydan“ gewechselt.
„Unsere letzte Ausgabe erschien am 20. Juli 2016“, sagt Ö. „An den Tagen davor haben wir den Umsturzversuch ganz klar abgelehnt.“ Aber nachdem Erdogan eingeräumt habe, von den Plänen im Voraus erfahren zu haben, habe es nur eine Frage gegeben: „Warum hat er es dann nicht verhindert?“ Dazu habe man ein Statement von Gülen veröffentlicht, der die Regierung auch kritisierte.
Tags darauf seien sein Chef und einige Kollegen verhaftet worden. Polizisten hätten die Redaktion gestürmt. Sie werden auch mich holen, denkt Ö. Zumal es in der Zwischenzeit bereits mehrere Verfahren gegen ihn gibt. Und so verlässt der junge Journalist überstürzt Beruf, Familie, Heimat.
Aus der Distanz ist schwer zu überprüfen, ob das alles so stimmt. Aber Ö.s Plädoyers für kritischen Journalismus wirken nicht gestellt. Zur Wahrheit gehört freilich auch: Über die Rolle der Gülen-Bewegung in und außerhalb der Türkei gibt es konträre Ansichten. Manche warnen vor einem sektenähnlichen Bund. Andere sehen in Gülen einen wichtigen Prediger, der die Bedeutung von Bildung betont. Unstrittig ist, dass sowohl „Meydan“ als auch „Zaman“ seinem Netzwerk nahe standen, Gülen selbst hatte eine Kolumne.
„Mir ist egal, ob jemand Gülen gut findet oder nicht, ob jemand Christ ist oder Muslim“, sagt Ö. „Ich weiß nur: Die Zeit des Sultanismus ist vorbei. Das Wichtigste für die Türkei wäre ein echtes demokratisches System.“
Aber auch er weiß: Die Gegenwart erzählt eine andere Geschichte. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ liegt die Türkei auf Platz 157 von 180. Anfang Juli hat es mal wieder ein paar Ex-Kollegen von Ö. erwischt. Die Urteile eines Istanbuler Gerichts: zwischen acht und zehn Jahren Haft für sechs „Zaman“-Mitarbeiter.
Es gibt nur Schätzungen, wie viele Journalisten aktuell in der Türkei inhaftiert sind. Mal liest man von 150, dann von 180 oder 200. Mit der Freilassung von „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel im Februar ist das Thema aus der deutschen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Ö. sagt, er höre von Kollegen, denen im Gefängnis der freie Zugang zu Büchern verweigert werde. Auch von Folter werde geraunt, von langer Isolationshaft, von bedrohten Angehörigen.
„Weißt du, was die größte Angst meiner Kollegen im Gefängnis ist?“, fragt Ö. zwischen Zorn und Resignation. „Vergessen zu werden.“