Istanbul – Am Tag der Abstimmung über das neue Anti-Terror-Gesetz der Türkei gibt es keine Proteste. Das Gesetz, das einige Regelungen aus dem gerade abgelaufenen, international kritisierten zweijährigen Ausnahmezustand fortschreibt, hatte als Entwurf noch viel Aufregung ausgelöst. Der deutsche Außenminister warnte, es dürfe keinen „Ausnahmezustand durch die Hintertür“ geben. Oppositionspolitiker wetterten, Menschenrechtsorganisationen protestierten. Aber am Mittwoch, dem Tag der Abstimmung, bleibt ein Drittel der Abgeordneten gleich fern.
Der Sprecher der pro-kurdischen Partei HDP, Ayhan Bilgen, erklärt den schwachen Auftritt der Opposition so: Die Regierungspartei AKP und ihr Partner, die MHP, hätten sowieso die absolute Mehrheit. „Es macht keinen Sinn mehr, ins Parlament zu gehen.“ Nur knapp einen Monat nach der Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdogan als Staatspräsident – nunmehr an der Spitze eines Präsidialsystems – macht sich Resignation breit in der Opposition.
Das Gesetz lässt Gouverneuren Teile ihrer Macht aus dem Notstand, es weitet den Polizeigewahrsam aus und bereitet offenbar neue Massenentlassungen vor – die Handschrift des Präsidenten, der seit dem Putschversuch 2016 den „Kampf gegen den Terror“ über alles stellt, ist unverkennbar. Menschenrechtler und Oppositionelle warnen seit Monaten vor einer Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei.
Markar Esayan, ein Kommentator der großen regierungsnahen Zeitung „Sabah“, wirft dem Ausland gestern „selektive Blindheit und Ignoranz“ vor. Die Türkei sei keine Diktatur. Das Sicherheitsgesetz ist allerdings keine singuläre Erscheinung. Es kommt im Konzert mit einem radikalen Umbau des gesamten türkischen Staates nach dem Willen des Präsidenten, und zwar mit viel schwerwiegenderen Folgen für den Alltag der Türken als das Sicherheitsgesetz allein. Hier geht es um Einfluss auf die Justiz, auf das Bildungssystem, Streitkräfte, Wirtschaft und vieles mehr.
Als Vehikel nutzt Erdogan Dekrete, für die er die Zustimmung des Parlaments nicht mehr braucht. Allein seit seiner Vereidigung hat er 14 veröffentlicht, die auf mehr als 500 Seiten regeln, wer im Staat wo den Hut auf hat. Mehr sind zu erwarten. Oft schaufeln sie die Macht direkt auf den Schreibtisch des Chefs oder in teils neu geschaffene Büros und Räte, die dem Präsidentenamt unterstehen.
Mit Dekret Nummer drei etwa darf Erdogan künftig hochrangige Militärs ernennen und feuern, außerdem die Chefs der Zentralbank. Seit Dekret Nummer vier haben er und sein Schwiegersohn, Finanzminister Berat Albayrak, die Macht, der Privatisierungsbehörde Befehle zu geben. Auch das Presseamt, das Direktorat für die Verteidigungsindustrie und viele weitere werden derzeit nach Dekret umorganisiert und neu besetzt.
Wie das Regieren aus einer Hand in Zukunft gehen soll, ist noch unklar. Ein westlicher Diplomat warnt: „Das wird einen enorm engen Flaschenhals für viele wichtige Entscheidungen geben.“
Vermittelnde Stimmen sagen, dass auch im Präsidialsystem gute Politik gemacht werden könne. Es komme eben auf die Menschen an, die Erdogan ernenne, sagt der Verfassungsrechtler Ersan Sen. Schon bei der Auswahl der Minister hatte Erdogan auf Familie und altgediente Alliierte gesetzt. Andere scheint er gleich auf Linie bringen zu wollen. Am Mittwoch hatte er eine Warnung parat selbst für loyale Anhänger: Niemand dürfe sich sicher wähnen, sagte er. „Jeder, der in ein Amt berufen wurde, kann wieder abgesetzt werden.“ Christine-Felice Röhrs