München – Man kann nicht sagen, dass es einen Knall gegeben hätte, einen Schlag oder Bruch. Es ist eher ein Bröckeln, ein kriechender Riss: Zwischen Russlanddeutschen und den Unionsparteien schwindet das einst enge Verhältnis. Allmählich entfernen sich die Wähler, strukturell eher konservativ, von CDU und CSU, viele driften nach ganz links und ganz rechts. Zumindest die CSU will energischer um die Wählergruppe kämpfen, die kein natürlicher Verbündeter mehr ist.
Die Schritte klingen unspektakulär. In seiner ersten Regierungserklärung verkündet Ministerpräsident Markus Söder den Aufbau eines Kulturzentrums für Russlanddeutsche in Nürnberg. Der Bundestag stockt die Mittel zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter auf. Die CSU-Landtagsfraktion lädt Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler zu einem Empfang ein. Der CSU-Politiker Bernd Fabritius wird Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung. Bayern begeht einen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Die CSU schaltet Anzeigen auf Facebook auf Russisch.
Und, jüngstes Beispiel: Diese Tage versenden CSU-Politiker Mitteilungen, dass sie eine Korrektur beim 2019- Rentenpaket der Bundesregierung verlangen. Man wolle „weiter für Verbesserungen der Renten für Spätaussiedler“ streiten, sagt Bayerns Sozialministerin Kerstin Schreyer. Die Kürzungen in den 90er-Jahren, damals mit Blick auf das niedrigere Lohnniveau im Osten, hätten 760 000 Rentner betroffen. „Es ist bedauerliche Realität, dass die nach Deutschland gekommenen deutschen Spätaussiedler überproportional häufig von Altersarmut betroffen sind“, warnt auch Fabritius. Seine Forderung: Wenn Ost- und Westrenten weitgehend angeglichen sind, müssen auch die „Fremdrenten“ nicht mehr gekürzt sein.
Die politische Botschaft in der Summe ist klar: Vor allem die CSU will um das Vertrauen dieser Klientel werben, es dürften bundesweit über 2,5 Millionen sein, in Bayern bis zu 500 000. „Es gibt so viele Russlanddeutsche in Deutschland, wie es Türken gibt – auch daran erkennt man die Relevanz“, sagt der Münchner Fabritius, der auch seit 2014 den Bund der Vertriebenen (BdV) führt.
Die AfD versucht gezielt, Spätaussiedler anzusprechen, mit Kandidaten auf den Listen und mit einer eigenen Arbeitsgruppe. Zugpferd: die Ex-CDU-Politikerin Erika Steinbach, auch noch Ehrenpräsidentin des BdV. CSU-intern kursieren Sorgen, bis zu 50 Prozent würden in einzelnen Vierteln zur AfD abwandern. Das könnte in Städten sogar Direktmandate kosten.
Eine Studie der Universitäten Köln und Duisburg-Essen bestätigt einen Trend, aber bisher nicht in dieser Dimension. Bei der Bundestagswahl 2017 wählten von den Russlanddeutschen 27 Prozent Union, 21 Prozent Linkspartei, 15 Prozent AfD. Im Münchner Norden blieb das erwartete starke AfD-Ergebnis sogar ganz aus. Verglichen mit dem Jahr 2014, als noch 45 Prozent der Union nahestanden, ist das dennoch eine massive Verschiebung.
Die Ursachen dürften vielfältig sein. Geäußert werden Frust über die heutige, als zu freigebig empfundene Flüchtlingspolitik und über den Mitte-Schwenk der CDU. Themen wie Gemeinschaft, Familie, Werte, Religion sind den Spätaussiedlern wichtig.
Fabritius nennt zudem als eine Ursache für das Ausweichen auf die extremen Ränder die Russlandpolitik der CDU: „Die Ablehnung Putins wird als Ablehnung der Russlanddeutschen fehlinterpretiert“, sagt er. Generell hinterfragten die Russlanddeutschen die Politik sehr stark, hätten mit ihrer Wahlentscheidung 2017 einen „Denkzettel“ verteilen wollen. Erst allmählich reife die Erkenntnis, dass Protestparteien eben keine Umsetzungsparteien seien.
Christian Deutschländer