Die Rückkehr der Taliban

von Redaktion

Islamisten sind in Afghanistan wieder auf dem Vormarsch und bringen immer neue Teile des Landes unter ihre Kontrolle

München – Anfang der Woche, als die Kämpfe langsam abflauten, wagte Jawad Hamisada die Flucht nach Kabul. Zuvor hatte er tagelang in Ghasni ausgeharrt, hatte erlebt, wie die Taliban Straßensperren errichteten, Polizisten erschossen und bis ins Zentrum der 270 000-Einwohner-Stadt vordrangen. „Wir haben Explosionen gehört“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Überall lagen Leichen, war Blut und Feuer.“ Hamisada wollte nur noch weg.

Es war nicht der erste Angriff der Taliban auf die strategisch wichtige Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Schon in den Wochen zuvor hatten die Islamisten Teile der Region erobert. Trotzdem wurden die Sicherheitskräfte von der Offensive Ende vergangener Woche kalt erwischt, was das Desaster noch größer macht. Nicht nur, weil mindestens 100 Zivilisten und noch mal so viele Polizisten getötet wurden. Sondern weil der Eindruck wächst, dass die Regierung den Taliban immer weniger entgegenzusetzen hat.

„Ghasni war der jüngste tragische Höhepunkt einer ganzen Reihe von Angriffen auf Provinz-Hauptstädte“, sagt Mirco Günther, der für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul sitzt, unserer Zeitung. „Regierung und Armee sind sichtbar überfordert.“ Inzwischen greifen die Taliban quasi täglich strategisch wichtige Ziele an. Am Sonntag überrannten sie den Distrikt Ajristan westlich von Ghasni. Am Dienstag eroberten sie einen wichtigen Armee-Stützpunkt im Norden des Landes und töteten mindestens 17 Soldaten. Kurz danach griffen sie in der Provinz Baghlan drei Kontrollposten und eine Militärbasis an, 40 Sicherheitskräfte starben. Und das waren nur die letzten Tage.

Unzählige kleinerer Angriffe kommen hinzu. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (Unama) schreibt, dass hinter 64 Prozent der Sicherheitsvorfälle Gefechte zwischen Regierungstruppen und Aufständischen stecken. Aufständische sind vor allem Taliban.

Der Effekt: Sie weiten ihren Machtbereich kontinuierlich aus, Kabul verliert indes zunehmend die Kontrolle. Genaue Angaben sind schwierig, weil Beobachtern der Zugang zu vielen Gebieten fehlt. Experten gehen aber davon aus, dass rund 40 Prozent des Landes von den Taliban kontrolliert oder umkämpft sind. Laut einer BBC-Studie vom Frühjahr sind die Taliban sogar in 70 Prozent des Landes aktiv. Von solchen Zahlen hätten selbst die Taliban lange nicht zu träumen gewagt. Ihnen kommt nicht nur die offensichtliche Schwäche der Regierungstruppen zupass. Sie nutzen auch das Vakuum geschickt aus, das nach dem Ende der internationalen Sicherheitsmission ISAF vor vier Jahren entstanden war. Seither müssen die Afghanen selbst für Sicherheit sorgen. Ohne die Hilfe US-amerikanischer Luftschläge sind sie oft machtlos.

Auch bei der Rückeroberung von Ghasni-Stadt ging es nicht ohne die Amerikaner. Die Offensive der Taliban hat gezeigt, wie verwundbar selbst Ballungszentren inzwischen sind. Ghasni ist strategisch besonders wichtig, weil es direkt an der „Ring Road“ liegt, die die wichtigsten Städte Afghanistans verbindet. Dass die Taliban noch immer 15 von 18 Distrikten der Provinz halten, ist kein gutes Zeichen.

Allerdings gibt es kleine Zeichen der Hoffnung. Im Juni einigten sich Regierung und Taliban auf immerhin drei Tage Waffenruhe. Unlängst trafen sich sogar ranghohe US-Diplomaten mit Vertretern der Islamisten. Über konkrete Ergebnisse ist nichts bekannt. Afghanistan-Kenner Günther dämpft aber allzu wilde Hoffnungen. „Sollte es zu einem erneuten Waffenstillstand kommen, wird der Islamische Staat als Saboteur auftreten“, sagt er. Denn auch der IS ist zunehmend in Afghanistan aktiv – die jüngsten Anschläge in Kabul gehen auf sein Konto.

Marcus Mäckler

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