Der Fall Sami a.

Rempler zwischen Politik und Justiz

von Redaktion

Von Martina Herzog und Petra Albers

Berlin – Es sind selten deutliche Worte. „Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet“, sagt Nordrhein-Westfalens oberste Richterin Ricarda Brandts. Um die Abschiebung des islamistischen Gefährders Sami A. nach Tunesien Mitte Juli zu ermöglichen, hätten Politik und Behörden bewusst Informationen zurückgehalten. NRW-Innenminister Herbert Reul keilt in die andere Richtung. „Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“, rät der CDU-Politiker. „Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen.“

In der Tat, die Entscheidung löst Empörung aus. Ein Mann, dem die Sicherheitsbehörden schlimmste extremistische Straftaten zutrauen, muss nach Deutschland zurückgeholt werden. Ein regelrechter „Shitstorm“ in den sozialen Medien und auch per Post sei über das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hereingebrochen, das die Stadt Bochum verpflichtet hat, Sami A. zurückzuholen, berichtet Brandts. Diese Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster inzwischen bestätigt.

„Teilen der Justiz sind offenbar alle Maßstäbe verloren gegangen“, wettert die Fraktionschefin der AfD im Bundestag, Alice Weidel, nun. Doch wenn Gerichte nach Stimmungslage entschieden und nicht nach Recht und Gesetz – wozu bräuchte es sie dann?

Brandts ist nicht die erste hochrangige Juristin, die sich öffentlich zu Wort meldet. Die Wortwahl der Politik treibt die Judikative um. „In einer Phase, in der Probleme gelöst werden sollen, möchte man sich nicht mit der Analyse schwieriger Rechtsfragen aufhalten. Da drängt es zur Tat. Und wenn es nicht schnell genug vorangeht, dann entsteht Verdruss“, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, Ende Juli.

Auch der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, berichtet: „Ich habe den Eindruck, dass die Politik sich so unter Handlungsdruck fühlt, dass sie sich durch die Gerichte behindert fühlt.“ Das sei aber ein grundlegendes Missverständnis der Gewaltenteilung, wonach Regierung und Behörden (Exekutive) getrennt sind von Legislative (Parlamenten) und Judikative. „Die Gerichte entscheiden nach Recht und Gesetz. Und die Politik spricht durch Gesetze“, betont Schellenberg. Das bedeute, dass die Politik sich nicht mit der Justiz auseinandersetzen müsse, sondern sie müsse Gesetze machen, die dann Grundlage für die unabhängige Justiz seien. „Diesen Weg scheint man an manchen Stellen abkürzen zu wollen.“ Das bereite Sorgen.

Eine gewisse Hemdsärmeligkeit im Umgang mit der Justiz mag Juristen empören, beim Wähler kann sie trotzdem ankommen. „Ich kann als Politiker keine Empathie für einen Vergewaltiger aufbringen“, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei einer Bierzeltrede Anfang August, als der Rechtsstreit um Sami A. noch in vollem Gange ist. „Ich bin froh, dass der mutmaßliche Leibwächter von bin Laden außer Landes ist.“

Seehofer spricht gerne vom Rechtsstaat, der klare Kante zeigen müsse gegen Gefährder und Straftäter. „Mein Ziel ist es, die Abschiebung zu erreichen, auch in diesem Fall“, sagte er noch im Mai. Nun hat der Rechtsstaat den Verantwortlichen eine Watschen verpasst. „Wie das Land NRW werden wir die Entscheidung des OVG Münster sorgfältig analysieren“, erklärt ein Sprecher des Ministeriums. „Wir stehen dazu in der Bundesregierung und mit den zuständigen Behörden in NRW in Kontakt.“ Ausgerechnet Seehofers Ministerium wäre jetzt am Zug, um die Beschaffung eines Visums für die Rückreise in die Wege zu leiten.

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