Wenn es dem Autokraten in Ankara gefällt, kann sich die angeblich so unabhängige türkische Justiz erstaunlich flexibel zeigen: Nach mehr als 17 Monaten darf die wegen Terror-Vorwürfen festgehaltene deutsch-türkische Journalistin Mesale Tolu jetzt plötzlich die Türkei verlassen. Schon klar: Erdogan braucht, seit er mit Donald Trump über Kreuz liegt, bessere Beziehungen zu Berlin. Vor allem will er deutsches Geld, weil sein auf Billigzinsen und horrenden Schulden gebautes Kartenhaus zusammenkracht.
Und siehe da: Dieselbe Bundesregierung, die nach osmanischer Propaganda noch bis gestern unter dringendem Faschismus-Verdacht stand, zuckt schon. SPD-Chefin Andrea Nahles trommelt für deutsche Hilfen – damit „die Türkei wirtschaftlich stabil bleibt und die Währungsturbulenzen eingedämmt werden“. Letzteres wäre in der Tat wünschenswert. Nur müsste Erdogan dafür die Zinsen anheben und/oder sich unter ein Programm des Internationalen Währungsfonds begeben. Das will der Despot vom Bosporus aber nicht, weil er dann bis auf die Knochen blamiert vor seinen Landsleuten dastünde.
Die von der Großmannssucht ihres Sultans verursachte Finanzkrise ist in Wahrheit eine Chance. Sie ist Erdogans Rendezvous mit der Realität. Sie kann die zuletzt immer aggressiver auftretende Türkei zurückführen auf den Weg eines gedeihlicheren Miteinanders mit ihren Nachbarn und mit Europa. Sie kann Erdogan zwingen, zu wirtschaftlicher Vernunft und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Das Falscheste, was Berlin in dieser Lage tun könnte, wäre es, den Islamisten in Ankara voreilig Hilfsmilliarden in Aussicht zu stellen. Es ist bezeichnend für die verzweifelte Lage der SPD, dass sie nicht auf das Schicksal zehntausender grundlos eingekerkerter türkischer Oppositioneller schaut. Sondern lieber auf ein paar Stimmen deutsch-türkischer Wähler schielt.
Georg Anastasiadis
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