Istanbul/Berlin – Ende des Monats soll Mesale Tolu wieder in Deutschland sein. Die Aufhebung der Reisesperre ist nach der Anklage wegen Terrorvorwürfen, U-Haft und Zwangsaufenthalt in der Türkei das Ende eines Albtraums nicht nur für die junge deutsche Journalistin und ihre Familie, sondern auch für deutsche Diplomaten. Der Fall hatte, zusammen mit dem des inhaftierten „Welt“-Reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, die Beziehungen zur Türkei auf Eiseskälte abkühlen lassen.
Trotzdem ist nun längst nicht wieder alles in Butter zwischen der Türkei und Deutschland. Denn der Fall Tolu ist zwar ein sehr prominenter, aber doch nur einer von vielen. Natürlich freue man sich für Frau Tolu, sagte gestern ein Sprecher des Außenministeriums in Berlin. „Aber es gibt ja noch eine ganze Reihe von anderen Haftfällen, die wir nicht aus den Augen verlieren werden, nur weil es in einem Fall positive Nachrichten gibt“. Im Ganzen sind es derzeit sieben Deutsche, die aus „politischen Gründen“ in der Türkei noch in Haft sind, darunter der 73-jährige Enver Altayli, der seit einem Jahr ohne Anklageschrift in Einzelhaft sitzt.
Außerdem gehen die Festnahmen weiter. Erst vergangene Woche war wieder ein Deutscher mit türkisch-kurdischen Wurzeln in der Türkei im Knast gelandet, angeblich, weil er auf sozialen Medien Propaganda für Terrorgruppen gemacht hatte.
Der Fall Tolu zeigt wohl eher, dass sich die Interessenlage in der Türkei geändert hat. Hauptgrund: „Die Türkei braucht Freunde – und unter Umständen bald sehr konkrete wirtschaftliche Hilfestellungen“, sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. „Zum Beispiel, was die Kreditfreigaben großer internationaler Finanzorganisationen angeht.“ Denn der Streit mit den USA um Andrew Brunson, einen Pastor, den die Türkei wegen Terrorvorwürfen festhält, war zuletzt total entglitten. US-Sanktionen hatten Märkte und Investoren verunsichert und die türkische Währung Lira schwer abstürzen lassen. Plötzlich war die Rede vom „Wirtschaftskrieg“.
Ein unerwartetes Resultat davon war die Kehrtwende der Türkei Richtung Europa. Plötzlich darf Tolu ausreisen. Plötzlich kommt mit Taner Kilic ein türkischer Repräsentant der in London beheimateten Menschenrechtsorganisation Amnesty International frei. Plötzlich dürfen zwei griechische Soldaten aus dem Gefängnis, deren Inhaftierung das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei ähnlich belastet hatte wie die Fälle Yücel, Steudtner und Tolu das deutsch-türkische.
Europäische Regierungen hatten während des gerade aufgehobenen zweijährigen Ausnahmezustands nach dem Putschversuch von 2016 Erdogans zunehmend „autoritären“ Kurs scharf kritisiert, was in der Türkei mit großem Ärger registriert worden war. Dazu die Inhaftierung von Deutschen, Griechen, US-Amerikanern: Eine Analyse in der Zeitschrift „Foreign Policy“ hatte den Begriff der „Geisel-Diplomatie“ geprägt. Nun, im Streit mit der Weltmacht USA, sind die „Geiseln“ offenbar plötzlich praktisches Faustpfand und Politik-Instrument. Ein westlicher Diplomat sagt, eine zuverlässige Annäherung an Europa sehe er da noch nicht, „eher ein Zweckbündnis, das so lange hält, wie es der Türkei in ihrer derzeitigen Situation hilft“.
Ob der neue Schmusekurs aus Ankara nur ein Lippenbekenntnis und rein taktisch ist oder ob er konkrete positive Auswirkungen auf das deutsch-türkische Verhältnis hat, könnte sich Ende kommenden Monats zeigen. Am 28. und 29. September kommt Erdogan zum Staatsbesuch nach Deutschland.