Berlin – Kein anderer Minister, der nach der Bundestagswahl sein Amt verloren hat, mischt sich derart umtriebig in die Tagespolitik ein wie Sigmar Gabriel. Er will gehört und nicht vergessen werden.
Am Dienstag bot sich dafür in Berlin wieder eine Gelegenheit jenseits von Gastbeiträgen und Interviews, die Gabriel gerne geschickt mit politischen Spitzen garniert. So ist er, so war er immer. Deswegen war der Saal im Haus der Bundespressekonferenz voll und viele Kamerateams gekommen. Der 58-Jährige saß bei der Vorstellung des Buches „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“ des Journalisten Christoph von Marshall auf dem Podium. Ein Thema für ihn wie auf dem Silbertablett serviert. Gabriel wird dazu Mitte September auch ein eigenes Buch vorstellen: „Zeitenwende in der Weltpolitik“.
Deutschland müsse endlich „geostrategische Verantwortung“ übernehmen. „Das Land muss strategisch erwachsen werden“, forderte Gabriel. Mehr Mut, mehr Selbstbewusstsein, mehr Einfluss. Und das zügig. Außerdem müsse sich die Republik von ihrem „moralischen Rigorismus“ verabschieden, der sogar in einer „albernen“ Debatte gipfele, ob der türkische Präsident Erdogan bei seinem Staatsbesuch Ende September mit militärischen Ehren empfangen werden dürfe. „Na, klar!“, so der Mann aus Goslar, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um inhaftierte Deutsche selbst noch anders argumentierte. Das war vor einem Jahr.
Nun hat der Genosse in den letzten Jahren Deutschlands Rolle in der Welt mitgeprägt – zuletzt auch noch zu Zeiten des Brexits und Donald Trumps. Fast acht Jahre war er SPD-Vorsitzender, er war Wirtschaftsminister, Vizekanzler und Außenminister. Gerade mal fünf Monate ist das her. Wer so mächtig und anerkannt ist, den trifft doch gewiss eine Mitschuld, dass die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde sich offenbar der Illusion hingibt, nichts ändern zu müssen. Oder? Gabriels Antwort: „In der SPD ist es ohnehin üblich, dass ich an allem Schuld bin. Also hier auch.“ Das sei natürlich spaßig gemeint, schob er rasch nach. Wirklich?
In Wahrheit dürften die alten Stacheln weiterhin tief sitzen, und Gabriels Umtriebigkeit könnte ein Zeichen dafür sein, dass er noch lange nicht abgeschlossen hat mit seinem erzwungenen Karriereende in der Regierung. „Respektlos“ sei der Umgang in der SPD miteinander geworden, hatte er sich beklagt, nachdem ihm von Andrea Nahles und Olaf Scholz der Stuhl vor die Tür gestellt worden war. Für viele in der SPD, die ihrerseits unter seiner sprunghaften und harten Führung gelitten hatten, war die Äußerung freilich der Gipfel der Unverschämtheit. Mit einigen der alten SPD-Weggefährten hat sich Gabriel seitdem überworfen. Aber nicht mit allen. So sollen er und Martin Schulz, über den er nach der verlorenen Bundestagswahl in der ersten Wut übel redete, dem Vernehmen nach wieder miteinander im Reinen sein.
Dass man noch viel von Gabriel hören und lesen wird, hatte er Ende Juni quasi offiziell auf seiner Homepage mitgeteilt. Damals hatte das Bundeskabinett die Erlaubnis erteilt, dass er für die Zeitungen des Holtzbrinck-Verlages schreiben darf. Manch einer in der SPD empfand die Ankündigung als Drohung. Offenbar aus gutem Grund.
Wer ihn kennt, ahnt: Er wird sich weiter einmischen.