Brüssel/Catania – „Aquarius“, „Lifeline“, „Diciotti“ – die im Mittelmeer umherirrenden Boote sind zum Sinnbild einer tatenlosen EU geworden. Immer wieder müssen Hunderte Menschen tagelang ausharren, ehe sie an Land gehen dürfen – in Italien, Malta oder Spanien. Weshalb kriegt die EU nicht mehr als Behelfslösungen auf die Reihe?
Anstatt aus Seenot gerettete Migranten an Land zu bringen, zu versorgen und auf die EU-Länder zu verteilen, schauen die Hauptstädte mehr oder weniger zu – oder weg. Auch ein Treffen mehrerer EU-Staaten am Freitag blieb in Sachen „Diciotti“ ohne Ergebnis: Niemand will die geretteten Menschen von dem Schiff aufnehmen.
Laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) sind in diesem Jahr bislang mehr als 1500 Menschen im Mittelmeer gestorben. Die populistische italienische Regierung lässt die Situation mit jedem Schiff vor ihrer Küste weiter eskalieren. Vize-Premier Luigi Di Maio drohte in Rom mit einem Ende der Beitragszahlungen an die EU, falls man sich bei dem Treffen am Freitag nicht auf eine Verteilung der Flüchtlinge einige.
Jüngster Fall: Das Rettungsschiff der italienischen Küstenwache „Diciotti“, das am Donnerstag vergangener Woche fast 200 Migranten aus Seenot rettete und seit Montagabend im Hafen der sizilianischen Stadt Catania liegt. Von Bord durften bislang nur Minderjährige und jene, die dringend medizinische Hilfe benötigten. „Einer von ihnen hat nicht mehr gut gesehen, er hat mir erzählt, ein Jahr lang im Dunklen gefangen gewesen zu sein“, sagt Nathalie Leiba, Psychologin von Ärzte ohne Grenzen. Solche Geschichten hört man jedes Mal: Folter, Sklaverei, Misshandlungen. Die Menschen fliehen um jeden Preis aus der Hölle in Libyen.
Der rechte und EU-kritische Innenminister Matteo Salvini rückt dennoch keinen Meter von seinem Anti-Migrations-Kurs ab – und bezeichnet Migranten als „Muskelpakete“ und „Illegale“, die ja wohl keinen Aufenthalt in Italien bräuchten, weil sie so gut ernährt seien. Wenn die Menschen auf der „Diciotti“ wie berichtet in einen Hungerstreik treten wollten, sollten sie das bitteschön tun, twitterte er. Es gebe genug arme Italiener.
Für die Hardliner ist die Situation ein Sieg. Die Bilder der umherirrenden Schiffe gehen um die Welt – und schrecken Flüchtlinge möglicherweise ab. Italien, Österreich, Ungarn – es gibt genug EU-Länder, die gegen „illegale Migranten“ agitieren. Der kleinste gemeinsame Nenner der EU-Migrationspolitik ist der verstärkte Schutz der Außengrenzen.
Und Brüssel? Die EU-Kommission scheint machtlos und spricht gebetsmühlenartig vom „humanitären Imperativ“. Das Wohl der Menschen an Bord der „Diciotti“ müsse an erster Stelle stehen. Man sei mit EU-Ländern in Kontakt und arbeite an einer schnellen Lösung. Die ganze Woche wurde schon an dieser schnellen Lösung gearbeitet, die es dann doch nicht gab. Mehr Entgegenkommen von anderen Ländern fordert EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos. Regelmäßig sagt er, es brauche eine EU-weite Lösung; nicht ein einzelnes Land oder einige wenige Länder seien für die Lösung der Migrationsfrage verantwortlich, sondern der gesamte Staatenbund.
Der gesamte Staatenbund? Die EU-Kommission hatte Vertreter der EU-Länder angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate für Freitag eingeladen. Einem Sprecher zufolge sollte es um einen gemeinsamen Ansatz und nachhaltige Lösungen gehen. Für diesen „gemeinsamen Ansatz“ wurden allerdings nur zwölf Länder eingeladen. „Natürlich steht das Treffen jedem Mitgliedstaat offen, der an einer europäischen Lösung interessiert ist“, sagte der Sprecher. Letztlich endeten die Gespräche ergebnislos, die Migranten auf der „Diciotti“ warten weiter auf eine Lösung.