Washington – Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen vor einem Rätsel: Wer ist das prominente Mitglied der Trump-Regierung, das jetzt in der „New York Times“ als Teil einer internen „Widerstandsbewegung“ gegen den Präsidenten einen anonymen Leitartikel veröffentlichte? Er oder sie schrieb: Viele der führenden Mitarbeiter in Trumps Verwaltung arbeiten mit der Absicht, die Agenda des Präsidenten zu „frustrieren“ und in die „richtige Richtung“ zu lenken, bis alles vorbei sei.
Seit der Veröffentlichung des spektakulären Beitrags schäumt Trump und lässt angeblich mit einer Sprach-Software nach dem Rebellen suchen, dem er auf Twitter unter anderem „Landesverrat“ vorwirft und dessen Namen er offiziell von der „New York Times“ verlangt. Doch das führende liberal orientierte Blatt will dem Verfasser Anonymität versprochen haben. Der Autor, der eigenen Angaben zufolge „das Richtige zu tun versucht, selbst wenn es Trump nicht tut“, sei der „New York Times“ zufolge über einen Mittelsmann an das Blatt herangetreten und habe den Meinungsbeitrag angeboten. In dem Artikel bezeichnet der Schreiber die „Amoralität des Präsidenten“ als „Wurzel des Problems“ und verspricht, Trumps „am meisten fehlgeleitete Impulse zu vereiteln“.
Die Reaktionen des Weißen Hauses waren so heftig wie selten zuvor. Unter der Annahme, dass der Leitartikel tatsächlich von einem Regierungsmitglied stammt, verkündete Trumps Sprecherin Sarah Sanders: „Der Individuelle hinter diesem Stück hat die Wahl getroffen, den gewählten Präsidenten der USA nicht zu unterstützen, sondern ihm in den Rücken zu fallen. Er stellt sich und sein Ego vor den Willen der amerikanischen Bürger. Dieser Feigling sollte das Richtige tun und zurücktreten“.
„Ist der Schreiber ein Held oder ein Verräter?“, fragte gestern ein CNN-Analyst zu dem beispiellosen Vorgang, der in Washington auch die Debatte weiter vertiefen dürfte, ob es einen sogenannten „deep state“ – einen „Staat im Staate“ – innerhalb der Regierung gibt, dessen einziges Ziel es ist, Donald Trump zu schaden. Die „deep-state“-Vermutung war erstmals vom extremen rechten Flügel der Republikaner geäußert worden – unter anderem mit der Vermutung, führende Demokraten wie Barack Obama würden von außen die Fäden ziehen, um mithilfe von Helfern in den Behörden Trumps Amtszeit so erfolglos wie möglich zu gestalten. Der „New York Times“-Leitartikel scheint die Vermutung eines „Staates im Staate“ zu bestätigen, auch wenn der Autor diesen Vorwurf zu entkräften versucht. Man handele „aus patriotischer Pflicht“.
Unter anderem berichtet der Autor in seinem Beitrag, dass man innerhalb des Kabinetts über den 25. Verfassungszusatz „getuschelt“ habe. Dieser Verfassungszusatz sieht ein Verfahren vor, einen amtierenden Präsidenten abzusetzen, wenn dieser geistig oder körperlich nicht mehr in der Lage sei zu regieren. Doch einen Anlauf für eine Absetzung Trumps auf diesem Weg wollte dann am Ende niemand unternehmen.
Der Präsident wies den Gastbeitrag in mehreren Stellungnahmen als „anonym, das heißt feige“ zurück und deutete an, der Regierungsmitarbeiter existiere nicht. Falls doch, müsse die Zeitung ihn aus Gründen der nationalen Sicherheit an die Regierung übergeben. Die Suche dürfte sich schwierig gestalten, falls tatsächlich ein hoher Beamter das Stück verfasst hat. Der in der „New York Times“ benutzte Begriff „senior administration official“ umfasst bis zu 12 000 Personen. F. Diederichs