Neue Studie über Missbrauch

Das beschämende Dunkelfeld der Kirche

von Redaktion

Von Christoph Driessen, Michael Brehme und Claudia Möllers

Bonn/München – Das Thema Missbrauch belastet die katholische Kirche seit Jahren dramatisch – nun hat eine große Studie die Situation in allen deutschen Diözesen aufgearbeitet und teils Erschütterndes hervorgebracht. „Spiegel“ und „Zeit“ veröffentlichten gestern vorab Ergebnisse der Untersuchung, die die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) offiziell erst am 25. September vorstellen wollte. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Kirche war demnach in der Vergangenheit weit verbreitet und ist auch heute keinesfalls überwunden. Es bestehe Grund zu der Annahme, dass der Missbrauch weiter andauere, hieß es.

Den Berichten zufolge werteten die Autoren im Auftrag der DBK mehr als 38 000 Personal- und Handakten aus den 27 deutschen Bistümern aus. Für den Zeitraum von 1946 bis 2014 seien dort sexuelle Vergehen an 3677 überwiegend männlichen Minderjährigen protokolliert worden. Insgesamt 1670 Kleriker hätten diese Taten begangen. 4,4 Prozent aller Kleriker der deutschen Bistümer waren demnach mutmaßlich Missbrauchstäter. Mehr als jedes zweite Opfer sei höchstens 13 Jahre alt gewesen, in jedem sechsten Fall sei es zu Formen der Vergewaltigung gekommen.

Der bei der DBK für Missbrauchsfragen zuständige Trierer Bischof Stephan Ackermann sagte, die Kirche wisse um das Ausmaß des Missbrauchs. „Es ist für uns bedrückend und beschämend.“ Die verfrühte Veröffentlichung sei „bedauerlich“, zumal „bislang noch nicht einmal den Mitgliedern der DBK die Gesamtstudie bekannt“ sei.

Die erwähnten Fälle sind vermutlich nur ein Teil dessen, was tatsächlich geschah. „Erkenntnisse über das Dunkelfeld wurden nicht erlangt“, heißt es in der Studie. „In einigen Fällen fanden sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulation“. In mindestens zwei Bistümern seien Akten vernichtet worden. Angesichts dessen kommentierte die Reformbewegung „Wir sind Kirche“, die Ergebnisse seien „ungeheuerlich, aber wohl nur die Spitze des Eisbergs“.

Dazu kommt: Die Autoren der Studie hatten keinen Zugriff auf die Originalakten. Alle Archive und Dateien wurden vom Kirchenpersonal selbst durchgesehen, die Forscher hatten lediglich einen Fragebogen erstellt, der von kirchlichen Mitarbeitern ausgefüllt wurde. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hatte kürzlich bereits kritisiert, dass für die Studie nicht alle Bistümer ihre Archive geöffnet hätten. Ackermann bestritt das.

Beunruhigend ist: Die Autoren der Studie sehen den Berichten zufolge keinen Anlass zu der Annahme, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt“. Die Serie der Missbrauchsfälle dauere stattdessen bis zum Ende des Untersuchungszeitraums an. Auffällig häufig seien beschuldigten Kleriker einfach in eine andere Gemeinde versetzt worden – ohne dass diese Bescheid gewusst habe. Die Bereitschaft der Kirche, Täter auch zu bestrafen, müsse „als nicht sehr ausgeprägt“ angesehen werden, heißt es.

Die Experten kommen zu dem Schluss, dass „die grundsätzliche Ablehnung“ der katholischen Kirche zur Weihung homosexueller Männer „dringend zu überdenken“ sei. Außerdem müsse die Frage erlaubt sein, ob die Verpflichtung zum Zölibat – zur Ehelosigkeit des Priesters – „ein möglicher Risikofaktor“ sei.

„Die Studie ist erschütternd“, sagte Bernhard Kellner, Pressesprecher des Erzbistums München und Freising, auf Nachfrage. Sie bestätige in allen Ergebnissen aber die Untersuchung, die Erzbistum München und Freising bereits im Jahr 2010 vorgelegt worden war. Dort hatte eine Rechtsanwaltskanzlei 13 200 Personalakten ausgewertet. Auch hier waren Fälle von Vertuschung und nicht konsequentem Verwaltungsverhalten dokumentiert worden. In Folge sei das Leid der Opfer anerkannt worden, es seien Zahlungen geflossen und die Verwaltung modernisiert worden. Zudem wurde ein E-Learning-Programm zur Prävention entwickelt, das jeder kirchliche Mitarbeiter absolvieren müsse.

Welcher Ortsbischof wusste von Fällen sexuellen Missbrauchs? Darüber verrät die Studie nichts. Ein vorbelasteter Pfarrer hatte auch im Münchner Erzbistum für Schlagzeilen gesorgt. Der Seelsorger aus dem Bistum Essen war in der Amtszeit von Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., unter Auflagen einer Therapie in München aufgenommen und in der Pfarrseelsorge eingesetzt worden. Es erfolgte ein weiterer Missbrauch. Trotzdem wurde der Priester als Kurseelsorger nach Bad Tölz geschickt. Der damalige Generalvikar Gerhard Gruber übernahm später öffentlich die Verantwortung. Er habe die Entscheidung getroffen, ohne mit Ratzinger zu sprechen.

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