Kreml-Kritiker wurde womöglich vergiftet

von Redaktion

Nach den Skripals sorgt nun der Fall Wersilow für Aufsehen – Ärzte der Charité halten eine Vergiftung für plausibel

Berlin – Ein russischer Kreml-Gegner wird vermutlich vergiftet; auch seine Ex-Frau und die neue Freundin sind Systemkritikerinnen. Der Fall des Moskauer Pussy-Riot-Mitglieds Piotr Wersilow enthält alle Zutaten für einen Krimi. Gerade erst wurden die Männer identifiziert, die den russischen Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet haben sollen. Nun sorgt also der Fall Wersilow für Aufsehen.

Der 30-Jährige ist zwar noch verwirrt, aber auf dem Weg der Besserung. „Wir sind zuversichtlich, dass eine Komplettheilung stattfinden wird“, sagte sein Arzt Kai-Uwe Eckardt von der Berliner Charité. Seit Sonntag wird Wersilow dort behandelt, zuvor war er in einer Moskauer Klinik.

Für eine Vergiftung gebe es eine hohe Plausibilität, sagte der Charité-Vorstandsvorsitzende Karl Max Einhäupl. Anders sei die Entwicklung der Symptome innerhalb der kurzen Zeit nicht zu erklären. Während bei den Skripals das Gift Nowitschok identifiziert werden konnte, wird man womöglich nie herausfinden, was Wersilow verabreicht wurde. Laut Eckardt gibt es lediglich Hinweise auf die Substanzklasse. Die Chancen, jetzt noch etwas nachzuweisen, seien nicht sehr hoch.

Das Gift habe für eine Störung des vegetativen Nervensystems gesorgt und bei Wersilow ein „anticholinerges Syndrom“ ausgelöst. Das vegetative Nervensystem ist für die Steuerung von Atmung oder Herzschlag zuständig. Ist es gestört, können Verwirrtheit, Schläfrigkeit, Fieber und auch weite Pupillen auftreten. All diese Symptome waren den Ärzten zufolge auch bei Wersilow zu beobachten. Am Dienstag habe sich sein Zustand plötzlich rapide verschlechtert, berichtete seine Freundin Veronika Nikulschina in Berlin: Von Stunde zu Stunde sei es ihm schlechter gegangen: „Er verlor die Fähigkeit, deutlich zu sprechen, wirkte desorientiert und bekam Halluzinationen.“ Daher habe sie einen Arzt gerufen.

Die Symptome begannen, nachdem Wersilow in einem Moskauer Gericht gewesen war. Er wollte bei der Freilassung seiner Freundin dabei sein, die zuvor zwei Tage lang in Polizeigewahrsam war. Nikulschina ist ebenfalls Aktivistin der Gruppe Pussy Riot. Sie und Wersilow gehören zu den „Flitzern“, die beim WM-Finalspiel Mitte Juli auf das Feld gerannt waren, um gegen Polizeigewalt zu demonstrieren.

Pussy Riot ist mit spektakulären Aktionen gegen Justizwillkür und Korruption weltweit bekannt geworden. Zu den Aktivistinnen gehört auch Nadeschda Tolokonnikowa, mit der Wersilow eine Tochter hat. Auch sie und Wersilows Mutter Elena sind nach Berlin gereist. Tolokonnikowa bekräftigte, Wersilow sei mit Absicht vergiftet worden; sie sprach vom „Versuch eines Mordanschlags“. Der Aktivist selbst könne einfache Fragen beantworten, berichtete seine Mutter Elena Wersilowa.

Wersilow hat auch die kanadische Staatsbürgerschaft. Trotzdem wird er nach seiner Genesung nach Russland zurückkehren, glaubt Tolokonnikowa. Es sei „eine Frage der Ehre, in Russland zu bleiben“. Allerdings könne sich niemand, der sich gegen die politische Elite stelle, sicher fühlen. A. Sokolow, Ch. Rautenberg

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