Schäuble: Lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben

von Redaktion

Nachdenkliche Töne am Einheitstag – Steinmeier ruft zum gesellschaftlichen Dialog auf

Berlin – Das Volk macht sich rar. Es sind nicht viele Menschen, die zum Tag der Deutschen Einheit hinter rot-weißen Absperrgittern am Berliner Dom warten. Metallzäune und Polizeiwagen blockieren Straßen, Scharfschützen sind postiert, Touristen suchen einen Weg. Die Innenstadt wirkt wie leer gefegt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schüttelt über die Gitter hinweg ein paar Hände, sagt „Hallo“ und „Welcome“. Offiziell heißt das im Programm „Begegnung mit der Bevölkerung“.

Aber „die Bevölkerung“, was bedeutet das eigentlich in diesen Tagen? 28 Jahre nach der Wiedervereinigung diskutieren Menschen in Deutschland, wie es steht um dieses Land. Noch immer ist von „Ossis“ und „Wessis“ die Rede. Und auch wenn der Unterschied zumindest für Jüngere nicht mehr so wichtig ist, brechen neue Konflikte auf. „Die da oben“ und „Wir hier unten“ zum Beispiel.

Oder der Streit, wie viele Menschen aus dem Ausland Deutschland aufnehmen kann. Mit dem Einheitsfest unter dem Motto „Nur mit Euch“ solle auch ein Zeichen gegen diejenigen gesetzt werden, die bewusst einen Keil in die Gesellschaft treiben wollten, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Für ihn ist der 3. Oktober auch ein Tag der Mahnung – gegen Hass und Ausgrenzung.

Denn trotz gut gefüllter Festmeile am Brandenburger Tor sind die nachdenklichen Töne nicht zu überhören. „Deutschland ist noch etwas gespalten, wir tun uns schwer mit Veränderungen, das dauert noch zwei Generationen“, sagt die 32-jährige Gianna Rizzo aus Ulm. Ein Rentnerpaar aus dem brandenburgischen Eberswalde meint unisono: „Für uns ist die Welt größer geworden mit der Einheit.“

Doch die rechten Demos in Köthen und Chemnitz, die Stimmung gegen Ausländer – „das ist traurig, das belastet meine Seele“, sagt eine 77-Jährige, die ihren Namen nicht nennen möchte. „Das darf nicht sein.“ Die 33-jährige Franziska aus Berlin sagt dazu: „Was sich da abgespielt hat, ist mir peinlich für Deutschland.“

Die Kanzlerin drängt sich nicht in den Mittelpunkt, nur am Rande des Festakts in der prächtig sanierten Staatsoper Unter den Linden gibt sie ein knappes Statement für Journalisten. Die Einheit sei ein langer Weg. „Einander zuzuhören, aufeinander zuzugehen, nicht nachzulassen“ – das sei wichtig.

Darauf kommt auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) beim Festakt zu sprechen. Er warnt, Minderheiten und Volksvertreter zum Feindbild zu machen. Obwohl es Deutschland gut gehe, dominiere der Pessimismus. Hilfe für Flüchtlinge und andere Migranten sei wichtig und richtig, aber nicht unbegrenzt möglich. Deshalb müsse man lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben. „Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur.“

Auf einer Leinwand werden Bilder aus der Hauptstadt gezeigt: Ein schwuler Friseur, ein Schauspieler mit Down-Syndrom, eine Bar auf dem Dach eines Parkhauses, Menschen mit Migrationshintergrund. Die Botschaft: Dit is Berlin. Aber das ist auch ein Gesellschaftsbild, das nicht jedem gefällt. Am Hauptbahnhof protestieren rund 1000 Rechtspopulisten und Rechtsradikale.

Läuft also etwas schief in diesem Land? Das wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefragt, als er nach einem Gottesdienst Hände schüttelt und für Selfies posiert. „Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten“, sagt er. „Das Wichtigste ist, dass die Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch kommt.“ Jutta Schütz

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